Vaterländische Poesie

Zum 175. Todestag Ernst Theodor Echtermeyers (1805 – 1844)

von Christian Kuhlmann | Ausgabe 2-2019 | Geschichte

Titelblat der Erstausgabe von Theodor Echtermeyers Hauptwerk. 1936 erschien im Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses die 48. neugestaltete Auflage. Sammlung Dr. Walter Müller
Blick auf das Pädagogium der Franckeschen Stiftungen  im Hintergrund, wo Echtermeyer wirkte, Holzstich um 1860. Sammlung Dr. Walter Müller
Ansicht der Franckeschen Stiftungen 1894, Kabinettfoto 1894. Sammlung Dr. Walter Müller

An künstlerische Leistungen als Artefakte einer „Kulturnation“ zu erinnern, gehört zum gelehrten, deutschen Nationaldiskurs im 19. Jahrhundert. So erscheint etwa 1836 in den Franckeschen Stiftungen zu Halle eine Auswahl deutscher Gedichte für die unteren und mittleren Classen gelehrter Schulen, die in die „geistige Welt [eines] Volkes“ einführen möchte und die Lyrik als diejenige Kunst betrachtet, „in der sich das innere Leben der Völker am unmittelbarsten und vernehmlichsten dem jugendlichen Gemüthe offenbart.“ [1] Das Land der Deutschen mit der Seele suchend, unternimmt der Lehrer Ernst Theodor Echtermeyer [2] den Versuch, Schülern ein tiefes Verständnis „wahrhaft dichterischer Productionen“ zu vermitteln. Dazu dienen ihm damals nachgerade zeitgenössische Dichter – bald bekannte wie Goethe, Schiller, Hölderlin etc., bald heutzutage unbekannte wie Langbein, Salis, Grün etc. –, die er als Repräsentanten ‚deutscher‘ Poesie auffasst. Die Schlussstrophe aus Uhlands Gedicht Märchen schließt daher beinahe programmatisch diese Anthologie ab: „Ihr habt gehört die Kunde / Vom Fräulein, welches tief / In eines Waldes Grunde / Manch hundert Jahre schlief. / Den Namen der Wunderbaren / Vernahmt ihr aber nie, / Ich hab’ ihn jüngst erfahren: / Die deutsche Poesie.“ Was als pädagogisch-nationalliterarisches Lehrmittel vor 175 Jahren in Halle begann, ist unzählige Auflagen später eine unter dem Terminus Echtermeyer etablierte Lyrik-Anthologie geworden, deren letzte Auflage nun 850 ausgewählte Gedichte aus 1000 Jahren ‚deutscher‘ Dichtung versammelt.[3] Sie vermitteln einen Eindruck von der Lyrik verschiedener Epochen, wobei die Auswahl dieser dezidiert ‚deutschen‘ Gedichte auch den jeweiligen Zeitgeschmack illustriert, demzufolge beständig überarbeitet und aktualisiert wurde. Das animiert zur Frage: Was hat ‚der‘ Echtermeyer mit ‚dem‘ Echtermeyer (noch) zu tun?

Betrachtet man zu deren Beantwortung zunächst seine Biographie, frappiert der unerwartet frühe Kontakt mit Ideen, die in eine Richtung weisen, die später ein deutscher Kaiser mit seinem Diktum, dass man doch „junge nationale Deutsche“ und nicht „junge Griechen und Römer“ erziehen solle, politisch instrumentalisiert. Denn vor dem Hintergrund der Humboldtschen Bildungsreform ging der 1805 in Liebenwerda geborene Ernst Theodor Echtermeyer zunächst auf die Landesschule Pforta (1818 – 1824), ein humanistisches Gymnasium, das selbstverständlich auf die Unterweisung im Lateinischen und Griechischen ausgerichtet war. Hier unterrichtete zu jener Zeit auch der Literaturhistoriker Karl August Koberstein (1797 – 1870), dessen Schulwerk Grundriß der Geschichte der deutschen Nationalliteratur [4] (1827) ihn als Apologeten des Deutschunterrichts auswies. Ein direkter Einfluss liegt nahe, zumal Koberstein in seiner Einleitung eine nahverwandte Auffassung postuliert: „[Die deutsche National-Litteratur] begreift nur diejenigen schriftlichen Werke, die auf künstlerischem Wege hervorgebracht, sowohl ihrer Form, wie ihrem innern Wesen nach ein eigenthümlich deutsches Gepräge an sich tragen […]“ [5] – sie sind demnach ‚Denkmäler‘ deutschen Geistes. Offensichtlich unter diesem Einfluss stehend nahm Echtermeyer 1824 ein Jura-Studium an der Universität Halle auf, widmete sich aber bis 1827 im Wesentlichen der Philologie bzw. Philosophie, die er auch in seiner Berliner Universitätszeit (1827 – 1829) betrieb. Die Universität Halle wird er später als diejenige Universität beschreiben, an der „immer die Philosophie, welche jedesmal das deutsche Bewusstsein bewegte, Vertretung und Anklang gefunden“[6]  habe, Thomasius und Wolff sind ihm sonach Heroen des (aufgeklärten) Geistes. Der preußische Staatsphilosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – 1831) beeinflusste Echtermeyer dagegen in seiner Berliner Zeit nachhaltig: Er wurde zum Hegelianer, nach 1835 zum sogenannten Junghegelianer. Dass derlei philosophische Neigung nach einem kurzen Aufenthalt in Zeitz (1830/31) durch die Tätigkeit als Lehrer am Pädagogium der Franckeschen Stiftungen in Halle verlangsamt wurde, indes durch die Bekanntschaft mit Arnold Ruge (1802 – 1880) neue Fahrt aufnahm, bezeugen die ab 1838 von Echtermeyer und Ruge herausgegebenen Hallischen Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst, die man als „zentrales Sprachrohr der linkshegelianischen Gruppierung“ [7] auffasst. Bei einer solchen Charakterisierung erwartet man weniger kritisch urteilende Optimisten als bornierte Parteigänger. Dabei ging es auch immer – pathetisch formuliert – um die Verteidigung der emphatisch (miss)verstandenen Freiheit. Das muss mitnichten ein Gegensatz zum philosophischen Programm sein, führte gleichwohl zu mancherlei Exzess, wie man ihn heute im von Echtermeyer und Ruge ebendort erschienenen Manifest Der Protestantismus und die Romantik (1839/ 1840) identifiziert. Romantik galt dort „nicht als Bezeichnung einer literarischen oder philosophischen Epoche […], sondern als Kennzeichnung einer Haltung, die als antiaufklärerisch, mittelalterlich, feudalistisch, katholisch, pietistisch, jesuitisch, unfrei, irrational, subjektivistisch, phantastisch, reaktionär, frivol, wollüstig o. ä., aber auch als heuchlerisch, lügnerisch und falsch näher zu bestimmen war.“ [8] Eine solche Auffassung zeigt nicht nur eine „Haltung“ an – wie sie sich zeitgleich auch in der Artikelserie Karl Streckfuß und das Preußenthum manifestiert –, sondern markiert Literatur als (politisch) rückständig, und zwar vor dem historischen Hintergrund der Reformation. Diese habe „Selbstbefreiung“ bedeutet, Romantik gehöre dagegen zum „Kreis der fixen Idee, des unfrei gewordenen Freiheitprincips der Reformation.“ Historisch und philosophisch verworren zeichnet sich die Schrift auch durch einen partiell wüsten Tonfall aus – ein Sonett von Friedrich Schlegel etwa wird gnadenlos abgeurteilt: „Welch’ ein Stil! welch’ ein gemeiner Besenstiel, welch‘ ein haltloser Pappenstiel! welch‘ ein Gewächs von Poesie! wogegen Haidekraut und Ginster Edelleute sind!“. Echtermeyer, der früh verwitwete und unterdessen auch seinen Beruf als Lehrer aufgegeben hatte, widmete sich in der Folge verschiedenen Projekten bzw. Projektideen (Akademie-Gründung, Musenalmanach, Jahrbuch für Deutsche Literatur), für die er 1841 nach Dresden übersiedelte. Ähnlich wie Thomasius, der ehedem von Leipzig nach Halle kam, sah er sich im geistigen ‚Exil‘, verfügte indes durch eine schwere Erkrankung nicht mehr über die vormalige Energie und starb 1844 ebendort.

Was also hat ‚der‘ Echtermeyer mit ‚dem‘ Echtermeyer (noch) zu tun? Während sein Leben zahlreiche Gegensätze zu vereinen scheint – etwa, dass die Vielfalt seiner Aktivitäten als Philosoph, Publizist, Literaturhistoriker eigentümlich mit der Tatsache kontrastiert, dass sein schulisches Lehrwerk, demnach die Tätigkeit als Lehrer, anhaltenden Erfolg brachte –, so bleibt doch seine Beschäftigung und Auseinandersetzung mit ‚dem‘ Vaterland eine Konstante. Dies mag man im Einzelfall kritisch beurteilen, gerade weil seine Anthologie im weiteren Verlauf der Geschichte auf ganz andere Weise politisch vereinnahmt wurde. Während sich im Kaiserreich und in der Zeit des Nationalsozialismus das Nationale ins National(sozial)istische verabschiedete, war der Echtermeyer gern bereit, dies literaturpolitisch zu stützen. Derlei historischen Erfahrungen führen dazu, dass Echtermeyers allzu pathetische Rede vom ‚deutschen Geiste‘ bzw. ‚deutscher Poesie‘ heutzutage desavouiert ist, zumal der altertümliche Sprachgebrauch nahelegt, dass es nicht um die Sache, sondern um das Epitheton ‚deutsch‘ geht. Dass Echtermeyer aber durchaus andere Epitheta kannte, wenn es um ‚das‘ Vaterland ging, daran sollte man im 175. Todesjahr mit einem seiner – zweifellos seichten – Lieblingsdichter, dem schon erwähnten Uhland, und dessen Gedicht Wanderung erinnern. Das lyrische Ich transzendiert Geographie und Leben, indem es festhält: „Wohl werd ich’s nicht erleben / Doch an der Sehnsucht Hand /Als Schatten noch durchschweben / Mein freies Vaterland.“

[1] Theodor Echtermeyer: Auswahl deutscher Gedichte für die untern und mittlern Classen gelehrter Schulen. Halle 1836, Vorwort, S. III.

[2] Über die Biographie Echtermeyer informiert Martin Hundt: Theodor Echtermeyer (1805–1844). Biographie und Quellenteil mit unveröffentlichten Texten. Frankfurt/Main et. al. 2012.

[3] Echtermeyer: Deutsche Gedichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Auswahl für Schulen. Hg. v. Elisabeth K. Paefgen u. Peter Geist. 20. Aufl., Berlin 2010.

[4] Das Werk wurde im 19. Jahrhundert mehrfach aufgelegt, ist indes nicht so bekannt wie etwa die Literaturgeschichten von Georg Gottfried Gervinus und Heinrich Laube; letztgenannten wird Echtermeyer für dessen Geschichte der deutschen Literatur heftig kritisieren. August Koberstein: Grundriß zur Geschichte der deutschen National-Litteratur. Zum Gebrauch auf gelehrten Schulen. Leipzig 1827.

[5] Ebd., Einleitung.

[6] Theodor Echtermeyer: Die Universität Halle. In: Hallische Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst 1 (01.01.1838), S. 1.

[7] Josef Rattner u. Gerhard Danzer: Die Junghegelianer. Porträt einer progressiven Intellektuellengruppe. Würzburg 2005, S. 74.

[8] Theodor Echtermeyer u. Arnold Ruge: Der Protestantismus und die Romantik. Zur Verständigung über die Zeit und ihre Gegensätze. Hg. v. Norbert Oellers, Hildesheim 1972, Vorwort des Hg., S. V.