Von Christgeburt bis Auferstehung – eine Weihnachtspyramide aus dem Jerichower Land*

von Antonia Beran | Ausgabe 4-2017 | Volkskunde

Grippenszene. Foto: Matthias Behne, behnelux gestaltung
Verkündigung der Hirten, Foto: Matthias Behne, behnelux gestaltung
Taufe Christi. Foto: Matthias Behne, behnelux gestaltung
Versuchung Christi. Foto: Matthias Behne, behnelux gestaltung
Auferstehung Christi. Foto: Matthias Behne, behnelux gestaltung
Trägerfigur, Mittelachse. Foto: Matthias Behne, behnelux gestaltung
rückseitige Antriebskurbel und Blick in den Mechanismus. Foto: Matthias Behne, behnelux gestaltung
Gesamtansicht der Weihnachtspyramide aus dem Jerichower Land. Foto: Matthias Behne, behnelux gestaltung
Ein Dachbodenfund kommt ins Museum

Es ist kurz vor Weihnachten. Auf den Bänken in der kleinen Gastwirtschaft sitzen Männer und Frauen. Öllampen erhellen das Zimmer nur mäßig. Kinder drängen herein, schauen neugierig zum Schäfer, der sich in der Zimmerecke niedergelassen hat. Er brachte einige Kisten mit und baut etwas zusammen. Mit einem Kienspan entzündet er kleine Wachslichte. Jetzt kommen alle näher. Der Kantor setzt die Geige an. Er spielt „Vom Himmel hoch, da komm ich her“. Zu den Klängen dreht der Schäfer die Kurbel. In warmes Licht gehüllt steht sie da, die Weihnachtspyramide.

So oder so ähnlich könnte es gewesen sein, als Schäfer Belling aus Großwudicke vor etwa 180 Jahren das erste Mal sein Kunstwerk präsentierte.

Im Jahr 1927 machte der Gastwirt Hermann Mebes aus Scharteucke auf seinem Dachboden eine ungewöhnliche Entdeckung. Jahrzehntelang unbeachtete Kisten gaben einen großen hölzernen mechanischen Apparat frei, der uns bis heute Rätsel aufgibt. Mebes übergab das historische Stück wenig später dem Genthiner Kreismuseum (heute: Kreismuseum Jerichower Land). Museumsleiter Otto Vogeler notierte, dass – nach mündlicher Überlieferung – der frühere „Gastwirt Joachim Busse (gest. 1891 in Scharteucke) um 1860 eine geschnitzte Pyramide (drehbar) von einem Schäfer in Großwudicke [1] für geliehenes Geld in Zahlung genommen habe. Der Schäfer hat die Figuren geschnitzt.“ [2] Ein Foto der vollständig aufgebauten Pyramide wurde erstmals 1934 angefertigt und mit der Bildunterschrift „Weihnachtspyramide aus Scharteucke. Geschnitzt um 1830 von einem Schäfer aus Großwudicke (Kreismuseum Genthin)“ im Heimatkalender veröffentlicht.[3] In der Broschüre zum 50jährigen Museumsjubiläum 1936 ergänzt Vogeler „geschnitzt um 1830 vom Schafmeister Belling“. Weitere Informationen zu Belling blieben trotz intensiver Archivrecherchen im Dunkeln. Die Pyramide befindet sich seit neunzig Jahren im Kreismuseum und wird gelegentlich zur Weihnachtszeit ausgestellt.

Aufbau und Beschreibung

Auch wenn die Bezeichnung Weihnachtspyramide das suggeriert, ähnelt sie nur entfernt den bekannten Drehpyramiden aus dem Erzgebirge. Die dreigeteilte Konstruktion besteht aus einem Holzkasten, einem beweglichen mehrstöckigen Aufbau sowie zwei angesteckten Auslegern. Von oben nach unten wird die Geschichte Jesu von der Verkündigung an die Hirten über seine Auferstehung bis zu seiner Himmelfahrt szenisch dargestellt.

Der Kasten, mit einer Grundfläche von 60×60 cm, ist aus dünnen Holzbrettern zusammengenagelt. Die Schauseite des Kastens ist in zwei Ebenen unterteilt. Auf der Rückseite befindet sich eine eiserne Handkurbel, mit der die hölzerne Mechanik in Bewegung gesetzt wird: die senkrechte Welle dreht sich und einzelne Figuren werden bewegt. Die Mittelachse ist als männliche Figur gestaltet, die, einem Karussell ähnlich, den oberen Aufbau trägt.

An der Mittelachse sind in der ersten Ebene vier runde Plattformen befestigt. Die Achse endet in einer zweiten Ebene mit einer ebenfalls kreisrunden Platte, die von zwei Spanholzbögen kreuzförmig überwölbt wird. Auf deren Kreuzungspunkt steckt ein Kerzenhalter mit einem blechernen Baldachin. Ein großer Kranz mit aufrecht stehenden Tannenzweigen umgibt die Spitze wie eine Krone. Vier kleinere Kränze aus Spanreifen mit Kerzenhaltern lassen sich auf der ersten drehbaren Ebene an die Mittelachse anstecken. Am Kasten werden seitlich noch zwei Ausleger eingesteckt. Sie halten runde Holzteller mit weiteren Darstellungen und dienen außerdem als Lichthalter. Mit allen angesteckten Teilen besitzt die Pyramide eine Breite von 140 cm und eine Höhe von 188 cm. Abgesehen von der eisernen Drehkurbel handelt sich um eine reine Holzkonstruktion.

Der Kasten und alle äußeren Konstruktionsteile sind mit dunkelgrüner Ölfarbe gestrichen, die Seiten mit dunkelgrünem Wachstuch bespannt. Außerdem sind einige Flächen mit geprägtem Bunt- und Goldpapier beklebt. Den besonderen Charakter erhält die ganze Konstruktion durch das außergewöhnliche Tannengrün, mit dem die Kanten der Plattformen und die Spanreifen besetzt sind. Immergrüne Zweige wurden in Deutschland und Europa seit dem 16. Jh. gern zur Ausschmückung in der Weihnachtszeit verwendet.[4] Natürliche Zweige wären für eine solche Konstruktion jedoch nicht geeignet. Es handelt sich um in Draht eingedrehte Hühnerfedern, die in grüne Farbe getaucht wurden und den natürlichen Tannenzweigen verblüffend ähnlich sehen.[5]

Ein weiteres Dekorationselement sind bunte hölzerne Quasten oder Troddeln. Am oberen großen Reifen hängen statt der Troddeln kleine Schellen aus Messing, die beim Drehen der Mittelachse in Schwingung gebracht werden und klingeln.

Die ca. 60 Figuren sind vollplastisch geschnitzt und bemalt. Sie sind zwischen 5 und 8 cm groß. Körper, Frisuren und Gewänder sind reduziert, aber sehr differenziert gestaltet. Die Gewänder liegen in Falten, Gürtel und Schwertgehänge sind plastisch modelliert. Auch Kopfhaar und Bärte sind sehr unterschiedlich, mal in glatten Strähnen, mal lockig. Die Männer tragen meist ein langes, in Falten gelegtes Gewand, das gelegentlich mit einem Gürtel in der Taille zusammengehalten wird. Die Frauen tragen Kleider mit engem Mieder und bodenlangen Röcken, die in Falten gelegt sind. Eine besondere Tracht kennzeichnet die Soldaten mit Pluderhosen und phrygischer Mütze. Im Gegensatz dazu erscheint die Trägerfigur am linken Ausleger in „modernem“ Anzug. Auch die beiden Schäfer in der obersten Ebene tragen Hüte und Gehröcke des 19. Jh. Sollte sich hier der Urheber, Schäfer Belling, verewigt haben?

Die dargestellten Szenen und ihre Deutung

Auf fünf Ebenen und den Nebenarmen folgen wir bei der Betrachtung der biblischen Geschichte: die oberste Ebene, die Plattform über der Mittelachse, zeigt die Verkündigung an die Hirten. Ein schwebender Engel weist den Weg. Zwei Hirten, einer mit rundem Filzhut mit Krempe und der andere mit Zylinder, stehen mit Hund und Schafen auf der Plattform. Die schmalen Bögen über der Szene tragen die Verse aus dem Lukasevangelium: FÜRCHTET EUCH NICHT! SIEHE, ICH VERKÜNDIGE EUCH GROSSE FREUDE.

Eine Ebene darunter sind vier Einzeldarstellungen auf kleineren runden Tellern angeordnet. Sie zeigen vier Szenen aus dem Leben Jesu: die Anbetung der Könige, die Beschneidung Jesu, die Versuchung Jesu durch den Satan und Jesus auf dem Weg nach Emmaus. Weitere Szenen befinden sich auf und in dem würfelförmigen Unterbau: Das letzte Abendmahl, die Taufe Jesu im Jordan und Auferstehung Jesu. Diese Szene ist mit besonderem Effekt gestaltet. Wird der Mechanismus in Gang gesetzt, öffnet sich der Sarg und aus dem Grab erhebt sich ein Engel.

Jesu Gefangennahme, Verurteilung und sein Weg nach Golgatha sind sehr komplex und reich an Personen in der untersten Ebene der offenen Vorderseite des Kastens dargestellt. Der Blick fällt durch eine halbkreisförmige Öffnung in das Kasteninnere. Um die Mittelachse wird eine Scheibe bewegt, auf der weitere Figuren aufgereiht sind. In einem scheinbar endlosen Zug begleiten sie den Kreuz tragenden Jesus zur Richtstätte. Die Plattform auf dem linken Ausleger am Kasten zeigt die Erhöhung der ehernen Schlange, eine Episode aus dem Alten Testament. Sinngemäß erfährt der Gläubige Heilung, wenn er auf den Gekreuzigten blickt wie die Israeliten auf die Schlange. Die Kreuzigung Jesu sehen wir auf der Plattform des rechten Auslegers. Vorbild waren möglicherweise die vereinzelt noch vorhandenen Triumphkreuzdarstellungen in den romanischen Kirchen des Jerichower Landes. Zu dieser Szene gehört ein Engel, der an einer Kette herabgelassen wird. Er erinnert an die Taufengel des 18. Jh., die in einigen Dorfkirchen zur Ausstattung gehören.

Mittels der im Kasten verborgenen Mechanik greift der Künstler zu interessanten Gestaltungsmitteln. Die Mittelachse rotiert und mit ihr die beiden oberen sowie die unterste Ebene. Für den Betrachter verändert sich während des Drehens die Perspektive. Die einzelnen Szenen treten nacheinander in den Vordergrund. Über Zahnräder und Stangen setzt die Mechanik weitere Bauteile und Figuren in Bewegung. Bei der Taufe fließt tatsächlich Wasser aus einem im Innern verborgenen Tank mittels einer wasserspeienden Löwenfigur zunächst in einen seitlichen Brunnen und dann in das mit Blech ausgekleidete Becken des Jordan. Ein Mann läutet eine kleine Glocke. Über eine starre Rolle gelenkt, schwebt ein Engel mit einem Kelch herab, um das Blut des Gekreuzigten aufzufangen.

Zeitliche und stilistische Einordnung

Die Fertigungsart und die verwendeten Materialien der Pyramide weisen auf eine Entstehung in der ersten Hälfte oder Mitte des 19. Jh. Ihre direkten Vorbilder kennen wir nicht. Vorauszusetzen sind gute Kenntnisse von mechanischen Apparaten, wie sie z. B. in Mühlen vorkommen. Ihr Schöpfer findet für die biblische Geschichte eine handwerkliche, naive Kunstform mit leicht verständlicher Bildsprache. Unsere Pyramide steht offenbar in der Tradition der mechanischen Weihnachtsberge, Drehpyramiden und Passionskrippen, die religiöse Volkskunst mit Schnitzhandwerk und Mechanik verknüpft und vor allem im katholischen Alpenraum und dem Erzgebirge ihre Zentren hatte. Insbesondere aus Sachsen gibt es zwischen 1820 und 1830 vielfache Belege, dass nebenberufliche Bastler ihre mechanischen „Bethlehems“ zur Schau stellten [6]. Von dort fanden sie auch in den protestantischen Gebieten Deutschlands Verbreitung. Durch einen besonderen Zufall hat unser Stück die Zeiten überdauert und erzählt von volkskünstlerischer Kreativität und christlichen weihnachtlichen Bräuchen aus vorindustrieller Zeit. Bisher konnte kein vergleichbares Objekt aufgefunden werden. Weiterführende Hinweise nimmt die Autorin gern entgegen.

 

* Eine ausführlichere Beschreibung s. Beran 2016, 495 – 512.
[1] Großwudicke, Gem. Milower Land, Lkr. Havelland, Land Brandenburg, gehörte vom 17. Jh. bis 1952 zum Kreis Jerichow II/Kreis Genthin.
[2] Archiv Kreismuseum Jerichower Land, Genthin.
[3] Volkstum und Heimat 1935, S. 46.
[4] Cassel 1856,137.
[5] Bis der Weihnachtsbaum in Preußen in der zweiten Hälfte des 19. Jh. erschwinglich wurde, erfreuten sich die sogenannten Berliner Pyramiden mit Buchsbaumzweigen oder grünem Seidenpapier umwickelte hölzerne Gestelle großer Beliebtheit (vgl. Beelitz 2005, S. 33). Die Art der Tannengrünimitation an der Scharteucker Pyramide steht wohl in dieser Tradition. Noch heute werden künstliche Weihnachtsbäume in gleicher Weise hergestellt, wenn auch die Nadeln inzwischen aus Kunststoffen bestehen.
[6] Vgl. Herrde 2012, 49-54; Just 1982, 229.¹¹

Literatur

Beelitz, Wolfgang: Märkische Weihnachtspyramiden, in: Der Holznagel 31 (2005) 6, 30 – 37.
Beran, Antonia: Von Christgeburt bis Auferstehung, in: Lehren – Sammeln – Publizieren, Festschrift für Hans-Jürgen Beier, hrsg. von Beran / Einicke / Schimpff / Wagner / Weber, Leipzig 2016, 495 – 512.
Bilz, Helmut: Erzgebirgische Volkskunst, Schwarzenberg 2000.
Cassel, Paulus: Weihnachten. Ursprünge, Bräuche und Aberglauben. Ein Beitrag zur Geschichte der christlichen Kirche und des deutschen Volkes, Berlin 1856.
Herrde, Bernd: Geschnitzt, bemalt, bewegt: mechanische Wunderwerke des sächsischen Universalgenies Elias Augst, Husum 2012.
Just, Johannes: Sächsische Volkskunst aus den Sammlungen des Museums für Volkskunst Dresden, Dresden 1982.
Karasek, Erika: Pfefferkuchen, Masken, Pyramiden. Weihnachtliche Volkskunst,
Berlin 1969.
Leichsenring, Claus: Weihnachtspyramiden des Erzgebirges: Entwicklung, Gestaltung, Herstellung, Husum 2009.
Peschel, Tina und Dagmar Neuland-Kitzerow: Weihnachtspyramiden. Tradition und Moderne, Husum 2012.
Volkstum und Heimat, Kalender für das Heimatgebiet Jerichow-Zerbst 23 (1935).
Weber-Kellermann, Ingeborg: Das Weihnachtsfest. Eine Kultur- und Sozialgeschichte der Weihnachtszeit, Frankfurt/M. 1987.
Weinhold, Gertrud: Freude der Völker. Weihnachtskrippen und Zeichen der Christgeburt aus aller Welt, München 1978.

Kreismuseum Jerichower Land
Mützelstraße 22 | 39307 Genthin
E-Mail: kreismuseumjl.genthin@web.de
www.lkjl.de/de/kreismuseum.html