Von Heimatgründen und einem Plüschhund.

Erkundungen in Zeitz.

von John Palatini | Ausgabe 3-2017 | Bürgerschaftliches Engagement | Kunst

„Open Space Zeitz“ – ein Projekt des Kloster Posa e. V. in der ehemaligen Stadtbibliothek; Foto: J. Palatini
Ansgar, Foto: J. Palatini
Dokumentation der Plakataktion in Zeitz, Foto: J. Palatini
Sofia Brandes vor ihrem Projektbeitrag, Foto: J. Palatini
Foto: J. Palatini
„Ich packe meinen Koffer“ von Tatjana Glowinski und Denise Thiemke, Foto: J. Palatini
„Heimatfilm“ von Laura Dierkes, Foto: J. Palatini

Musik schallt aus der ehemaligen Stadtbibliothek von Zeitz. Vom Döner-Imbiss auf der anderen Seite gehen skeptisch Blicke über die Rahnestraße und ein Aufsteller vor dem schönen Portal des maroden Gebäudes wirkt etwas verloren. Doch drinnen ist es an diesem Abend des 1. Juli 2017 gut gefüllt. Neugierig inspizieren die Besucher das sonst verschlossene Gebäude, in dem auf zwei Ebenen Werke von 27 Studierenden zu sehen sind, die an der Fachhochschule Dortmund und der Hochschule für populäre Künste Berlin studieren. Dank einer Kooperation mit der Kultur- und Bildungsstätte Kloster Posa e.V. haben sie eine Woche in Zeitz gelebt und gearbeitet. Die Ergebnisse ihrer Unternehmung zeigen sie nun unter dem schaufenstergroß plakatierten Titel „Heimat versus Fremde“.

Damit die Arbeit von Lisa Hinzmann funktioniert, müssten die Zeitzer das angerichtete Tableau aus Schotter und Sand, Rindenmulch, Asphalt und Gras endlich einmal betreten und am besten auch ordentlich durcheinanderwirbeln. „Geht doch mal drüber!“, ruft sie deshalb. Aber noch stehen die Besucher an der Seite und zieren sich. Die Studentin im Masterstudiengang „Szenografie und Kommunikation“ gibt weiter resolut Anweisungen. Dann endlich zieht ein Kind seine Schuhe aus und wagt den ersten Schritt. Kameras klicken und Lisa Hinzmann wirkt zufrieden. Und sie kann es auch sein, öffnet ihre Arbeit doch einigen Assoziationsraum. Sich eine Heimat schaffen, das macht auch Mühe, sagt einer der Besucher. Am Rand stehen, distanziert bleiben, dürfte hingegen kaum ausreichen, um heimisch zu werden. Hinzmann selbst hat zu den hier ausgebreiteten Böden persönliche Beziehungen. Der Asphalt stehe für Frankfurt/Main, an Dortmund erinnere sie dagegen der Duft von Rindenmulch, den ihr Vater immer im Frühjahr im elterlichen Garten ausgestreut habe. Die zusammengebrachten Heimatgründe sind daher für sie ein Bild ihrer Heimaten. Überhaupt könne Heimat ganz verschiedene Untergründe haben, wenn sich nur dieses Heimatgefühl einstelle. Damit das geschehe, müsse man sich den neuen Orten auch stellen, sich auf sie einlassen. Und deshalb habe sie auch Backsteinscherben dazu gelegt, die sie mit Zeitz verbinde. Wichtig sei, sagt Lisa Hinzmann, dass man Heimat zulasse, egal wo man hinkomme.

Das ehemalige Kloster Posa haben die Studierenden nicht zur weltabgewandten Klausur genutzt, sondern als Ausgangspunkt für vielfältige Formen der Kontaktaufnahme mit den Plätzen und den Bewohnern der Stadt. Was bedeuten die Begriffe Heimat und Fremde – ganz persönlich, für andere, für die Bewohner von Zeitz? Mit diesen Fragen, so Nora Fuchs, eine der betreuenden Professorinnen, seien die Studierenden hierhergekommen. Die ausgestellten Werke dokumentieren nun ihre ganz verschiedenen Annäherungen. Neben Bearbeitungen von Materialien aus der eigenen Kindheit und Jugend, beruhen sie in erster Linie auf Strategien der Reflexion, der Erkundung und Aneignung von bisher Unvertrautem.

„Woran glaubst du?“ „Was verbindet uns?“ „Bist du glücklich?“ Fragen stellen, zuhören und beobachten, mitmachen, andere einbeziehen, auf sie zugehen, sie zu Wort kommen lassen, die Sprache sprechen, den Ton treffen – alles Techniken, die gebrauchen kann, wer sich beheimaten, wer Wurzeln schlagen will. Und genau das haben die jungen Leute aus Berlin und Dortmund in Zeitz versucht. Entstanden sind Toninstallationen und Filmcollagen, Objekte, Fotoserien, Bücher und Videos – vieles, das nicht immer gleich Kunst sein will, aber doch zum Gespräch und zur Reflexion einlädt. Die einen haben Menschen, auf die sie trafen, Fragen gestellt und Antworten erhalten, andere haben Zeitz auf Instagram erkundet, Plakate geklebt, den örtlichen Kleingartenverein besucht oder Zäune fotografiert.

Laura Dierkes zeigt in ihrer Arbeit „Heimatfilm“ Überlagerungen von Filmaufnahmen aus ihrer Kindheit mit Fotografien von Orten aus Zeitz, womit es ihr gelingt, das Vertraute, Mithergebrachte mit dem Neuen, dem Fremden zu verbinden. Max Rüthers wiederum war mit Plüschhund Ansgar unterwegs, den er auf ein Rollbrett geschnallt hatte – was für kalkuliertes Schmunzeln sorgte, aber oft auch das Eis brach. Sein Fazit: „Möchte man heimisch werden, können ein Lächeln und ein Plüschhund viel bewirken.“

Was an diesem Abend scheinbar fehlt, ist das Politische. Heimat ist in Zeiten der Flüchtlings- und Migrationskrise jedoch längst wieder zu einem Kampfbegriff geworden, hinter dem sich ganze Weltbilder verbergen. Und so ist auch diese Ausstellung, wenngleich nicht vordergründig, immanent politisch. Vernehmbar wird Heimat wieder als ein exklusives und gefährdetes Konzept gedeutet, das es zu verteidigen gelte – gegen kulturelle Einflüsse und natürlich gegen alle, die hier fremd sind. Andererseits ist Heimat längst kein Begriff allein der Rechten und Konservativen, der von links getreu dem Motto „Links ist da, wo keine Heimat ist!“ negiert oder aber mit Rekurs auf Ernst Bloch ins Utopische entrückt wird. Wie selbstverständlich gehört Heimat heute zum realpolitischen Begriffsinventar aller Parteien. Deren Akteure haben erkannt, dass sich mit Heimat jenes vernünftigerweise nicht zu bestreitende menschliche Bedürfnis nach ganz grundlegender Vertrautheit und Verbundenheit bezeichnen lässt, das in der Gegenwart für so viele ausbleibt. Neben all denen, die auf Grund von Krieg oder ökonomischer Perspektivlosigkeit ihre vertrauten Orte verlassen haben und noch verlassen werden, sind auch in Zeitz und seinem Umland viele Menschen in der Vergangenheit von Heimatverlust betroffen gewesen. War es erst der Braunkohleabbau, der Heimat zerstörte, gingen in den Wendejahren die oft über Jahrzehnte gewachsenen Nahräume aus vertrauter Tätigkeit und sozialem Netz flächendeckend verloren und erzwangen den Wegzug oder das Zurückbleiben im Stillstand. In Zeitz kann man die Folgen der schlagartigen Deindustrialisierung und der mit ihr verbundenen Entwurzelungen noch immer besichtigen, während die Industrie von einst ihren Platz im Museum gefunden hat. Straßenzüge stehen leer, Häuser verfallen, die Bevölkerung schrumpft. Was demografischer Wandel für eine einst blühende Stadt bedeutet – in Zeitz ist das, neben all dem Schönen und Neuen, das es hier auch gibt, in bröckelnden Stein gemeißelt. Ein Gang durch die Rahnestraße versetzt denn auch in eine eher melancholische Stimmung. Der Beheimatungsoptimismus, den die Ausstellung verströmt, fällt daher besonders auf.

Und es ist gerade dieser Optimismus, der zwar in der Persönlichkeit jedes Einzelnen begründet liegen mag, der aber zugleich die politische Dimension dieser Ausstellung ausmacht. In der Gesamtschau wird Heimat hier als eine ganz persönliche Kategorie verstanden. Nicht das Sinnieren über Volk und Nation, und darüber, was angeblich typisch deutsch sei und daher verbinde, macht Heimat hier aus, vielmehr erscheint Heimat als ein an Orte, Menschen und Dinge gebundener Zustand, der sich möglichweise tatsächlich am besten als Gefühl beschreiben lässt. Heimat in diesem Sinne ist einmal das Wenige, das in einen Koffer passt, ein anderes Mal die Erinnerung an verlorene Orte, und dann wieder schiere Gegenwart und Glaube an die Zukunft. Heimat gibt es nicht geschenkt, sie stellt sich nicht ohne weiteres ein, sie erfordert immer Mühe und Einsatz. Davon erzählen die Werke der Studierenden auf ernsthafte und sympathische Weise. Diese Ausstellung zeigt: Wer Heimat als menschliches Grundbedürfnis auffasst, kann diesen Begriff als einen durch die Generationen und Kulturen hindurch verstehbaren Ankerpunkt erkennen, auf den sich ganz unterschiedliche Perspektiven entwickeln lassen, nicht zuletzt auch ästhetische. Wie gut das jenseits der in Ausstellungen schon oft erprobten Dekonstruktion von Gartenzwergarrangements und Bergpanoramaklischees funktioniert, war an diesem Abend in Zeitz zu erleben.

Nun mag man einwenden, dass die Gäste aus Dortmund und Berlin, ihrem jugendlichen Alter geschuldet, noch gar nicht wissen können, was Heimat Menschen zu sein vermag, was es bedeutet, wenn Heimat, ob nun weggebaggert oder abgewickelt, unfreiwillig verschwindet, und dass Verwurzelung zu einer Gefahr für das Weiterleben werden kann. Andererseits, der Imperativ der Globalisierung lautet: du sollst flexibel bleiben. Da mag es ein Vorteil sein, an keinem Ort wie an einer Heimat zu hängen, oder aber, wie Lisa Hinzmann, drei oder vier Orte Heimat zu nennen und dem zu huldigen, was Herrmann Hesse empfiehlt: „Bereit zum Abschied sein und Neubeginne, / Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern / In andre, neue Bindungen zu geben.“ Wie schön das klingt, wenn das lyrische Ich hier vom Zauber spricht, der jedem Anfang innewohne. Welche Zumutungen damit auch verbunden sind, davon können nicht zuletzt viele Zeitzer berichten. Da mag der weniger lokal festgelegte Beheimatungsoptimismus der Jüngeren eine gute Imprägnierung sein gegen all die Zumutungen einer Welt, die der Soziologe Hartmut Rosa als unentwegte Beschleunigung beschreibt, in der sich in immer kürzeren Abständen die Räume, Dinge und Menschen, die den Einzelnen umgeben, verändern, und in der der Einzelne Gefahr laufe, nur noch als postmoderner Wellenreiter ohne Heimat und Zielbestimmung glücklich werden zu müssen. Auch unter diesen Bedingungen will Beheimatung gelernt sein, während andere darum kämpfen, die Uhr zurückzustellen.

Einiges, was die jungen Leute erzählten, machte wiederum auch betroffen. Wenn der 22-jährige Max Rüthers berichtet, dass seine Wahrnehmung Sachsen-Anhalts durch die Negativschlagzeilen der letzten Jahre geprägt wurde, dass die viel beschworene Mauer in den Köpfen für ihn zunächst überhaupt nicht existierte, jetzt aber doch, und dies auf Grund der Verschiebung der politischen Landkarte und der Brandanschläge, etwa im nicht einmal fünf Kilometer von Zeitz entfernten Tröglitz, dann bekommt man noch einmal eine Ahnung vom Imageschaden, den Sachsen-Anhalt in den letzten Jahren erlitten hat. Und man ist ehrlich froh, wenn der heitere junge Mann mit dem Resümee schließt, eine sehr positive Erfahrung in Zeitz gemacht zu haben, weshalb er gerne wiederkommen will. Vor diesem Hintergrund bleibt zu hoffen, dass Vereine wie die Kultur- und Bildungsstätte Kloster Posa e.V. oder auch die Künstlerstadt Kalbe in der Altmark weiterhin breite Unterstützung erfahren. Denn sie beleben durch ihr freiwilliges Engagement nicht nur ihr Umfeld. Längst sind sie Botschafter eines freundlichen und weltoffenen Sachsen-Anhalts geworden, das jede Aufmerksamkeit verdient hat.