Keine Antwort aus Schloss Calbe auf Luthers Thesenbrief
Wie die Reformation in die Erzbischofs- und Handelsstadt Calbe an der Saale kam
von Dieter Horst Steinmetz | Ausgabe 3-2017 | Geschichte
Seit dem 10. Jahrhundert besaßen die Magdeburger Erzbischöfe einen Zweitsitz in der Handelsstadt Calbe an der Saale. Im 14. Jahrhundert ließen diese Fürsten ein repräsentatives, befestigtes Schloss am Nordost-Rand der Stadt errichten. Ende des 15. Jahrhunderts verspürten die ehrsamen Ackerbürger, Kaufleute und Handwerker von Calbe den Frühlings-Hauch der frühen „Moderne“. So setzten sie 1475 beim Erzbischof durch, dass sie sich selbst einen „studierten“ Bürgersohn für den Stadt-Schulmeister-Posten[1] aussuchen durften.[2] 1496 inhaftierten die Bürger den patrizischen selbstherrlichen Rat der Stadt Calbe wegen Korruption. Dem neu gewählten zwölfköpfigen Rat wurde eine Kontrollkommission, bestehend aus sechs Männern aus der Mittelschicht, an die Seite gestellt, um gewährleisten zu können, dass alles zum Wohl der gesamten Kommune getan würde.[3]
1513 war der 23-jährige Hohenzoller Albrecht von Brandenburg Erzbischof von Magdeburg geworden. In dieser Eigenschaft hielt sich der junge Kirchenfürst öfter im Schloss Calbe auf, besonders weil der Erzbischofs-Hof in Magdeburg wegen der städtischen Unruhen zu unsicher geworden war. Auch Ständische Landtage fanden im Calber Schloss wiederholt statt. Bald zog es Erzbischof Albrecht aber in eine neue Residenz, die noch sicherere, 1503 fertiggestellte Moritzburg zu Halle an der Saale.
Am 17. November 1517 öffneten die erzbischöflichen Hofräte im Schloss zu Calbe einen Brief des Augustiner-Mönchs und Universitätslehrers Doktor Martin Luther aus Wittenberg, abgesandt am 31. Oktober 1517. Das taten die Räte stellvertretend, weil Albrecht von Brandenburg 1514 entgegen allen kirchlichen Gesetzlichkeiten auch noch die Würde des Erzbischofs von Mainz erlangt hatte und in diese Metropole abgereist war. In dem Punkt aber verquickte sich das Ganze, denn Albrecht hatte sich bei den Fuggern enorme Geldsummen für die Bestechung des Papstes leihen müssen und um die Schulden zurückzahlen zu können, den berüchtigten Ablasshändler Johann Tetzel in das Magdeburger Land geholt. Das wiederum führte zur Kritik Luthers, und nun wandte dieser sich an seinen sieben Jahre jüngeren Vorgesetzten, der ihm als ein humanistisch gebildeter und Reformen zugeneigter Kirchenfürst bekannt war, um ihm in devoter Sprache das Verwerfliche des Ablasshandels vor Augen zu führen. Sogar Thesen für eine Diskussion unter verständigen Männern hatte er dem Schreiben beigefügt. Das also war der Brief, den behördliche Augen erstmals in Calbe erblickten und der später als die Initialzündung der Reformation angesehen wurde.
Wenn heute in aller Welt, um einen greifbaren Fixpunkt zu haben, das Absende-Datum des Briefes als der Beginn der Reformation angesehen wird, dann lag die zweite Station in Calbe am 17. November. Allerdings ist das für den Verlauf der Reformations-Geschichte von geringer Bedeutung, denn alles kam nun auf die Reaktion des Brief-Empfängers an, der sich inzwischen in die Mainzer Zweit-Residenz, die Johannisburg in Aschaffenburg, zurückgezogen hatte. Die Magdeburger erzbischöflichen Räte schickten vom Schloss Calbe aus den Brief dorthin. Der zweifache Erzbischof Albrecht sah das Schreiben aus Wittenberg nicht als unbedingt wichtig an. Er gab im Dezember 1517 den Inhalt des Briefes sicherheitshalber zur Begutachtung an die Theologen der Mainzer Universität und an die Kurie im Vatikan weiter. Die Gutachter warnten vor der Gefährlichkeit der Luther-Thesen, aber Papst Leo X. wollte vom deutschen „Mönchsgezänk“ nichts wissen.[4] Am 13. Dezember 1517 wies Albrecht von Aschaffenburg aus seine Magdeburger Hofräte an, die wegen der Unruhen in Magdeburg jetzt oft von Calbe aus die Amtsgeschäfte leiteten, alles zu unternehmen, dass das Volk nicht von den Ablass-Käufen abgehalten werde.[5] Und Luther wartete immer noch auf eine Antwort von seinem geistlichen Vorgesetzten, die aber nicht kam.
Inzwischen entwickelte das Ganze eine Eigendynamik. Die wichtigsten Thesen Luthers und seine reformatorischen Grundsätze verbreiteten sich auf Einblatt-Drucken unter den lesekundigen Bürgern. Auch unter den vielen Analphabeten sprach sich der Inhalt der Publikationen bald herum. Erzbischof Albrecht, der 1518 zusätzlich noch die Kardinals-Würde erkauft hatte, hielt sich weiterhin zurück. Am 4. Februar 1520 schrieb ihm Luther einen zweiten, wiederum ehrerbietigen Brief, in dem er bedauerte, dass der Kirchenfürst noch nicht seine Aufsätze gelesen hätte, während seine Feinde ihn zu diskreditieren versuchten.[6] Am 26. Februar 1520 antwortete ihm endlich der Kardinal vom Schloss Calbe aus, er habe immer noch keine Zeit gehabt, sich mit Luthers Schriften zu beschäftigen, aber er wünsche eindringlich, dass die reformatorischen Theologen sich nicht in kirchenpolitische Dinge einmischten.[7]
Dieser Brief Albrechts aus Calbe enttäuschte Luther so sehr, dass er nun sein Anliegen gezielt publik machte. Seine reformatorischen Hauptschriften erschienen im Sommer und Herbst 1520. Mit Luthers öffentlicher Verbrennung der päpstlichen Bann-Androhungsbulle, dem darauffolgenden Bann, dem Wormser Edikt und dem Schutz durch den sächsischen Kurfürsten Friedrich III. war 1521 der Bruch des nach kirchlicher Reform Strebenden mit der römischen Kirche vollzogen. Inzwischen aber begann sich die reformatorische Bewegung zu verschärfen und im Magdeburger Land akut auszubreiten. Thomas Müntzers Volksreformation, die antirömischen Tumulte und Krawalle in Magdeburg, der demonstrative Übertritt eines Großteils der Magdeburger Gemeinden zum lutherischen Glauben 1524 und der deutsche Bauernkrieg 1525 ließen Kardinal Albrecht seine versöhnlich-abwartende Haltung aufgeben und zum Reformations-Gegner werden.
In Calbe, der einst bei den Erzbischöfen wegen der Loyalität seiner Bürger beliebten kleinen Handelsstadt, kam es im Zuge der Radikalisierung der Reformationsbewegung nun auch zum Aufruhr. Kardinal Albrecht hatte 1524 aus dem verfallenden Stiftskloster „Gottes Gnade“ bei Calbe mit Hilfe des ihm eng verbundenen Schlosshauptmanns Simon Hake[8], des Bürgermeisters von Calbe Hans Hermann und anderer Patrizier sowie des erzbischöflichen Vogts aus Magdeburg Sebastian Langhans die große Glocke aus der Stiftskirche entfernen und auf einem Ochsenwagen nach Halle abtransportieren lassen. Dort wurde sie in der 1523 neu geweihten Stiftskirche des Magdeburger Erzbistums, dem „Halleschen Dom“, aufgehängt. In der Bevölkerung des Magdeburger Landes entstand das viel gesungene „Lied vom Glockendieb und Ochsentreiber“, womit offenkundig Albrecht von Brandenburg gemeint war.[9] In den Gasthöfen Calbes riefen die Anführer einer Revolte zum Lynchmord am Bürgermeister und seinen Komplizen auf. Am 18. September 1524 wurden die calbischen Helfer des „Glockendiebes“ von den rebellischen Calbensern verhaftet und gefangengesetzt. Der maßgeblich am Glockenraub beteiligte Magdeburger Vogt des Erzbischofs alarmierte eiligst den erzbischöflichen Statthalter Graf Botho zu Stolberg, der mit seinen Landsknechten die Aufrührer zwang, die Eingekerkerten freizugeben. Nun wurden einige Rädelsführer verhaftet, aber auf Albrechts Geheiß kamen sie bald wieder in Freiheit.[10]
Für 1539 und 1540/41 berief Kardinal Albrecht Landtage in das Schloss zu Calbe ein, in denen es vorrangig um Steuern für die Abtragung seiner immensen Schulden ging. Die Stände der Ritterschaft und der Städte forderten dafür jedoch die Freiheit der Religionsausübung.[11] Der Kardinal gewährte ihnen diese nicht, unternahm aber auch gegen protestantische Selbsthilfe-Aktivitäten in seinem Magdeburger Herrschaftsbereich nichts mehr.[12] Im Frühjahr 1541 verließ der kranke Fürst verbittert Halle und zog sich in die Martinsburg zu Mainz zurück, wo er 1545 starb. Wie mehrere Städte im Magdeburger Land bekannte sich auch die Bürgerschaft von Calbe kurz nach Albrechts Abreise zur neuen lutherischen Lehre. Am 11. Juni 1542 fand in der St.-Stephani-Kirche erstmalig in Calbe ein evangelischer Gottesdienst statt.[13] In den 1560er Jahren wurde sie im lutherischen Sinne ausgestaltet und alles „Papistische“ entfernt.
Eine der ersten stadtpolitischen Maßnahmen im evangelischen Zeitalter war 1543 die Schließung des städtischen Bordells in Calbe gemäß dem lutherischen Menschenbild. Große Bedeutung maßen die Lutheraner der Bildung und Erziehung der jungen Menschen bei. Die alte „Schola Latina Calbensis“ erhielt 1585 ein neues Schulgebäude und nebenan eine „Maidlein-Schule“.[14]
Das nahegelegene Stiftskloster „Gottes Gnade“ blieb noch bis 1553 römisch-katholisch. Im Schmalkaldischen Krieg 1546/47 wurde die desolate Anlage geplündert und im ständig wechselnden Hin und Her der Besatzungen während des Dreißigjährigen Krieges gänzlich ruiniert. Auch die Stadt Calbe, die sich fest zum Luthertum bekannte und vehement gegen das Augsburger Interim stellte, litt in den Konfessionskriegen, besonders im Dreißigjährigen Krieg, schwer. Über ein Drittel der Häuser in Calbe war 1648 wüst oder ruiniert, ein großer Teil der Einwohner hatte Seuchen und Kriegseinwirkungen nicht überlebt.[15]
Das konnte Luther sicherlich nicht gewollt haben. Aber seine Versuche zur Reformierung der alten Kirche hatten einen gesellschaftlichen Prozess in Gang gesetzt, der das Tor zur Frühmoderne verstärkt aufstieß und später in die Aufklärungsepoche des 18. Jahrhunderts einmündete. Von diesem Wandel zur bürgerlich-kapitalistisch geprägten Moderne profitierte auch Calbe als Tuchmanufaktur- und Tuchindustrie-Stadt bis ins 20. Jahrhundert hinein. In seiner wohl bedeutendsten Rede in der Frankfurter Nationalversammlung am 16. Februar 1849 hatte Dr. Wilhelm Loewe, der demokratische Paulskirchen-Abgeordnete aus Calbe / Saale, hervorgehoben, „daß der Protestantismus die Rechte der Individuen in so hohem Maße anerkennt, daß die Würde des Menschen dadurch auf eine so hohe Stufe gestellt werden sollte, wie noch nie vorher in der Geschichte.“[16]
[1] Der Posten eines Stadt-Schulmeisters war in Calbe meist eine Station auf der Stufenleiter zum Pfarrer.
[2] Reccius, Adolf: Chronik der Heimat. Urkundliche Nachrichten über die Geschichte der Kreisstadt Calbe und ihrer näheren Umgebung, Calbe/Saale 1936, S. 29 f.
[3] Ebd., S. 31.
[4] Springer, Klaus-Bernward: Die deutschen Dominikaner in Widerstand und Anpassung während der Reformationszeit, Berlin 1999, S. 41.
[5] Landes-Archiv Sachsen-Anhalt, Sign. A 2, Nr. 498a, pag. 8r-9v.
[6] Martin Luther, Werke, Kritische Gesamtausgabe, Briefwechsel, 2. Bd., Nr. 248, Weimar 1931, S. 27 ff.
[7] Ebd., Nr. 259, S. 53ff.
[8] Der Schlosshauptmann und Rittergutsbesitzer zu Calbe, Simon Hake, war ein enger Vertrauter Kardinal Albrechts, vgl. Merkel, Kerstin: Albrecht und Ursula. Wanderung durch Literatur und Legendenbildung. In: „… wir wollen der Liebe Raum geben“ – Konkubinate geistlicher und weltlicher Fürsten um 1500, hg. von Andreas Tacke [= Schriftenreihe der Stiftung Moritzburg, Kunstmuseum des Landes Sachsen-Anhalt, hg. von Katja Schneider, Bd. 3.], Göttingen 2006, S. 183.
[9] Die Historia des Möllenvogtes Sebastian Langhans – 1524–1525. In: Die Chroniken der niedersächsischen Städte – Magdeburg, 2. Bd., Leipzig 1899, S. 180f.
[10] Ebd.; Hertel, Gustav: Geschichte der Stadt Calbe, Berlin/Leipzig 1904, S. 28ff.
[11] von Dreyhaupt, Johann Christoph: Pagus Neletici et Nvdzici, Oder Ausführliche diplomatisch-historische Beschreibung des zum ehemaligen Primat und Ertz-Stifft, nunmehr aber durch den westphälischen Friedens-Schluß secularisirten Hertzogthum Magdeburg gehörigen Saal-Kreyses …, Erster Theil, Halle 1749, S. 207f.
[12] Moritz, Anja: Interim und Apokalypse – Die religiösen Vereinheitlichungsversuche Karls V. im Spiegel der magdeburgischen Publizistik 1548–1551/52, Tübingen 2010, S. 166.
[13] Hertel, a.a.O., S. 144f. Nach dem heute geltenden gregorianischen Kalender war das der 21. Juni 1542.
[14] Dietrich, Max: Von dem ersten evangelischen Rektor und seinen Mitarbeitern an der lateinischen Stadtschule in Calbe/Saale, in: „Unsere Heimat“, Calbe/Saale, 5/1921; Hertel, a.a.O., S. 162; Herrfurth, Klaus: Calbes Schule im Jahrhundert der Reformation, in: „Calbenser Blatt“, Calbe/Saale, 6/7/8 und 10/2010.
[15] Steinmetz, Dieter Horst: Vom Königshof Caluo 936 bis zur Kreisstadt Calbe 1919 – Geschichte einer mitteldeutschen Stadt von den Anfängen bis zur Gründung der Weimarer Republik, Magdeburg/Calbe-Saale 2010, S. 73 und S. 132.
[16] Wigard, Franz, Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der Deutschen Constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main [171. Sitzung in der Paulskirche am 16.2.1849], Bd. 7, Frankfurt/M. 1849, S. 5242.