1000 Jahre Merseburger Dom – 1000 Jahre Glockengeschichte

Mathias Köhler | Ausgabe 1-2022 | Geschichte

Kleine Bienenkorbglocke im Mittelbau. Foto: Mathias Köhler.
Zweitgrößte Glocke „Clinsa“ im Nordwestturm. Foto: Mathias Köhler.
Westfassade des Doms (historische Aufnahme): im linken Turm die „Clinsa“, am Turmhelm außen zwei Uhrschlagglocken, im rechten Turm die größte Glocke „Benedicta“, die übrigen Glocken im Mittelbau dazwischen. LDA, Archiv.
Größte Domglocke „Benedicta“, Detail der Schulterinschrift. Foto: Reinhard Ulbrich, LDA.
Größte Domglocke „Benedicta“, Gesamtansicht. Foto: Reinhard Ulbrich, LDA.
„Nona“ mit Ritzzeichnung des Stifters Heinrich Stoybe von Goch. Detail. Foto: Reinhard Ulbrich, LDA.
„Nona“ mit Ritzzeichnung des Stifters Heinrich Stoybe von Goch. Foto: Reinhard Ulbrich, LDA.
Glocken im Mittelbau: Horaglöckchen. Foto: Mathias Köhler.
Glocken im Mittelbau: Zuckerhut. Foto: Mathias Köhler.
Glocken im Mittelbau: Namenlose. Foto: Mathias Köhler.
Neue Glocke von 2021 („Friede“). Foto: Mathias Köhler.

Nicht nur architektonisch und baugeschichtlich ist der Merseburger Dom St. Laurentius und Johannes der Täufer, dessen 1000-jähriges Weihejubiläum vergangenes Jahr gefeiert wurde, ein bedeutendes Bauwerk. Innerhalb der reichen Ausstattung bildet das Geläut einen nicht unwesentlichen Bestandteil. Kaum anderswo dokumentieren Glocken derart eindrucksvoll Bau- und Liturgiegeschichte des Gotteshauses.

Zehn historische Glocken, davon acht mittelalterliche, eine frühneuzeitliche und eine barocke, dazu eine 2021 gegossene bilden derzeit den Bestand der Merseburger Domglocken. Neun davon werden als Geläut schwingend in Bewegung gesetzt, zwei sind als Uhrschlagglocken starr außen am Helm des Nordwestturms angebracht. Mit diesem historisch einzigartigen Ensemble verfügt der Merseburger Dom über einen der bedeutendsten Glockensätze nicht nur im deutschsprachigen Raum.

Der von Bischof Thietmar 1015 begonnene und 1021 geweihte Dom hat sich noch heute in beträchtlichen Teilen, etwa den Untergeschossen der Ost- und Westtürme erhalten. Nach Teileinstürzen der Osttürme und des Sanktuariums wurden diese Bauteile bis 1042 unter Bischof Hunold wieder hergestellt. Es scheint gut möglich, dass die tonhöchste erhaltene Domglocke damals angeschafft wurde. Sie ist in Bienenkorbform gegossen worden und fällt durch ihre sorgfältige, in römischer Capitalis ausgeführte Inschrift auf, die da lautet: + IN NOMINE DOMINI. AMEN. (Im Namen des Herrn. Amen). Zwei dreieckige Eintiefungen auf der Haube, sog. Foramina (nicht durchgehend), kennzeichnen das Werk als Theophilus-Glocke, da es wohl nach den Anweisungen der Schedula diversarum artium des Mönchs Theophilus hergestellt worden ist. Das 113 kg schwere Glöckchen erklingt in hohem des”’.

Im letzten Drittel des 12. Jahrhunderts erhielten die Westtürme ihre achteckigen Aufsätze. Damit einher geht die Anschaffung einer für die Zeit außerordentlich großen Glocke für den Nordwestturm. Sie dürfte um 1180 gegossen worden sein und trägt den Namen „Clinsa“. Ihre bereits leicht geschwungene Flanke weist auf eine Weiterentwicklung hin. Mit der Kunigundenglocke des Bamberger Doms und der Glocke in Odenthal im Bergischen Land gehört sie zum Typ der jüngeren Bienenkorbform. Ihr eigenartiger, fast dämonischer Klang passt gut zur von Schnurstegen gerahmten apotropäischen Inschrift: SIT DUM CLINSA SONAT TVRBO PROCVL HOSTIS ET IGNIS (Wenn die Clinsa ertönt, sei Sturm, Feind und Feuer fern). Mit einem Gewicht von 1960 kg ist diese zweimal gesprungene und wiederum geschweißte Glocke bis heute die zweitgrößte Domglocke. Sie hält den Nominal f’-7.

Vielleicht mit der Erneuerung des Altarhauses unter Bischof Ekkehard von Merseburg um 1230 mag die Anschaffung eines Paars von Zuckerhutglocken konform gehen, von denen die größere im Ersten Weltkrieg abgegeben und eingeschmolzen wurde. Die erhaltene kleinere zeigt einen formschönen, bis auf zwei Ringe am Wolm völlig schmucklosen, stark gelängten Glockenkörper. Diese zweitkleinste Glocke erklingt im Nominal über c”’ und hängt heute im Stuhl des Glockenhauses zwischen den Westtürmen.

1272 beschädigte eine Unwetterkatastrophe Türme und Dächer des Doms schwer. Offensichtlich steht im Zusammenhang mit den danach erfolgten Wiederherstellungsarbeiten der Guss der bis heute größten Domglocke, der „Benedicta“ im Südwestturm. Das auf der Glocke angebrachte Siegel ist das des Bischofs Heinrich von Ammendorf, der 1301 starb. Spätestens um 1300 dürfte die Glocke aus dem Umguss einer älteren entstanden sein, reimt sich doch ihre Inschrift mit derjenigen der „Clinsa“ im Halbvers- und Versschluss. Der Hexameter, der auch den Namen der Glocke „Benedicta“ ( = die Gesegnete) enthält, gibt Aufschluss über die Funktion als Christus- und damit Festtagsglocke. Die Ritzzeichnung des segnenden Christus, die überaus prächtige, an Buchmalerei erinnernde Majuskelinschrift (die Buchstaben mit Ranken gefüllt) sowie die weit ausschwingende Form machen die Glocke, die etwa 3000 kg wiegt, aber aufgrund ihrer enormen Rippenstärke nur den Nominal es’-5 aufweist, zu einer der schönsten hochgotischen Glocken Sachsen-Anhalts.

Nach dendrochronologischen Befundungen wurden die Hölzer für den im eigentlichen „Glockenhaus“ zwischen den Westtürmen stehenden mächtigen Glockenstuhl 1458/59 geschlagen. Bereits 1458 wurde dafür ein fast an Zuckerhutglocken erinnerndes Glockenpaar geschaffen. „Nona“ mit dem Nominal b’-1 und „Quarta“ mit dem Nominal c” sind nach ihren Inschriften Stiftungen des Domherrn Heinrich Stoybe von Goch. Beide Glocken sind Umgüsse älterer Instrumente, wobei offensichtlich deren Form übernommen wurde. Beide Glocken zeichnen sich aus durch kunstvolle Ritzzeichnungen, die u. a. die Dompatrone, eine Kreuzigungsgruppe und den Stifter selbst zum Thema haben. Zusammen mit den Ritzzeichnungen der Markröhlitzer Glocke und auf der berühmten „Gloriosa“ der Leipziger Thomaskirche zählen die Merseburger Beispiele zum Bedeutendsten, was es aus diesem Genre in Mitteldeutschland gibt.

1479 ergänzte man dieses Glockenpaar durch eine weitere kleinere Glocke (Nominal d”), ebenfalls in stark gelängter Form.

Auch diese Glocke, deren Name nicht mehr bekannt ist, zeigt (fast erloschene) Ritzzeichnungen. Alle drei Glocken sind tonlich exakt aufeinander abgestimmt, und es scheint, dass dieses „Kerngeläut“ (b’ – c” – d”) zum Zusammenläuten Verwendung fand, während die anderen Glocken überwiegend solistisch erklangen.

Bereits 1477 gelangte die Viertelstundenglocke zur Ausführung. Gegossen in „verkürzter Rippe“ ist sie als Uhrschlagschelle starr am Helm des Nordwestturms montiert. Ihr der Form geschuldeter, eigentümlich blecherner  Klang steht im Gegensatz zur ausfallend schönen Gestaltung mit einem Fries aus Kleeblattbögen und Weintrauben, dem Markenzeichen des sog. „Halle’schen Gießers“, dessen Name man nicht kennt. Das Stadtwappen von Halle stützt die Provenienz.

Glocken aus der großen Umbauphase des Doms unter Bischof Thilo von Trotha (ausgeführt zwischen 1510 und 1517) sind nicht bekannt. Erst eine kleine Glocke aus dem Jahr 1538 dokumentiert die weitere Vermehrung des Glockenbestandes. Das knapp 59 kg wiegende „Horaglöcklein“ mit seiner aus Ps.150 zitierten Inschrift erinnert an das Stundengebet der Domherren am Samstag zur „Hora“, das noch Jahrhunderte nach Einführung der Reformation gehalten wurde.

Möglicherweise im Zusammenhang mit der Erneuerung der Dachwerke über der westlichen Vorhalle und über den Querhausarmen 1709/10 steht der Umbau des gotischen Glockenstuhls zwischen den Türmen, der zusätzlich durch Andreaskreuze versteift wurde. Auch der gotische Stuhl der „Benedicta“ erfuhr einen Umbau, der der „Clinsa“ wurde unter Verwendung älterer Teile neu konstruiert.

Die schon 1656 (und wieder 1857) erneuerte Domuhr erhielt 1752 eine prächtig verzierte Stundenglocke, gegossen in gestauchter Form wie die Viertelstundenglocke. Wilhelm Becker aus Naumburg war ihr Gießer. Auch sie ist am Helm des Nordwestturms angebracht.

Abgesehen von einer möglicherweise im 19. Jh. entstandenen kleinen Eisenglocke, deren Provenienz ebenso unklar ist wie ihr Bestimmungsort (heute abgestellt), blieb der Glockenbestand nun bis zum Ersten Weltkrieg unangetastet. Ein Teil war zersprungen und außer Gebrauch. Für die ebenfalls gesprungene „Clinsa“ hatte Franz Schilling 1910 Ersatz geliefert. Diese Glocke wurde ebenso ein Opfer der Kriegsfurie, wie die größere der beiden Zuckerhutglocken und eine weitere Glocke, von der nur der Durchmesser bekannt ist. Auch die 1931 erneut als Ersatz für die „Clinsa“ angeschaffte Glocke wurde vernichtet. Sie wurde ein Opfer des Zweiten Weltkrieges. Das abgenommene „Horaglöckchen“ überdauerte den Krieg unversehrt im Sammellager Ilsenburg.

2000/01 konnte unter Domdechant Prof Dr. Ernst Schubert das Geläut samt Glockenstühlen endlich denkmalgerecht saniert werden. „Clinsa“, der kleine Bienenkorb, die Zuckerhutglocke und das „Horaglöckchen“ erhielten im Glockenschweißwerk Lachenmeyer in Nördlingen ihre Stimme wieder. Allerdings sprang die „Clinsa“ bereits nach einem Jahr erneut und konnte erst 2008 noch einmal geschweißt werden. Sie erhielt damals auch einen neuen, an mittelalterlichen Vorbildern orientierten Klöppel.

Die Tonfolge des Geläuts wies große Lücken auf, ein Zusammenläuten aller Glocken offenbarte einen ziemlich dissonanten Eindruck. Als besonders unangenehm stellte sich das Intervall zwischen „Clinsa“ und „Nona“ dar. Durch eine großzügige Spende der Friede Springer Stiftung konnte 2021 zum Weihejubiläum eine neue Glocke erworben werden, die die ehedem vorhandene dritte Glocke nun klanglich vollgültig ersetzt. Gegossen im Sächsischen Metallwerk Freiberg nach historischem Vorbild (Hilliger-Glocken in St. Wenzel zu Naumburg) ertönt sie nun dreimal am Tag zum Betzeitläuten im Nominal g’ und entlastet somit den in die Jahre gekommenen Glockenbestand. Da Glocken so klingen, wie sie gegossen wurden, kann der Besucher nun romanischen, gotischen oder modernen Klängen lauschen, die sich an Hochfesten zu einer Glockensymphonie steigern. Das Merseburger Domgeläut ist das Musik gewordene Ebenbild einer 1000-jährigen Baugeschichte. Gott zur Ehre, den Menschen zur Freude.

 

Literaturhinweise

Köhler, Mathias: Das Merseburger Domgeläut. In: Zwischen Kathedrale und Welt. 1000 Jahre Domkapitel Merseburg. Petersberg 2004. S. 92 – 100. 

Ders.: Domgeläut. In: Der Merseburger Dom und seine Schätze. Zeugnisse einer tausendjährigen Geschichte, Hrg. Von den Vereinigten Domstiftern zu Merseburg und Naumburg und des Kollegiatstifts Zeitz. Petersberg 2008. S.125 – 135. 

Ders.: Zur geplanten Erweiterung des Geläutes im Dom St. Laurentius und Johannes d. T. in Merseburg. In: Denkmalpflege in Sachsen-Anhalt 29 (2021) 1. S.24 – 26. 

Köhler, Mathias/ Schulz, Christoph: Merseburger Dom und St. Wenzel in Naumburg: Die Instandsetzung der Geläute. In: Denkmalpflege in Sachsen-Anhalt 10 (2002) 1. S. 28 – 44. 

Schubert, Ernst / Ramm, Peter: Die Inschriften der Stadt Merseburg ( = Die Deutschen Inschriften11, Berliner Reihe 4). Berlin-Stuttgart 1968. 

Schulze, Ingrid: Figürliche Glockenritzzeichnungen des 14. und 15. Jahrhunderts in Mittel- und Norddeutschland. Phil. Diss. Halle 1958.