„Ein unnatürlicher Zustand“*

Die Regierung Willy Knorr in Anhalt im Jahr 1924

Ralf Regener | Ausgabe 1-2022 | Geschichte

Staatsbesuch des Reichpräsidenten Friedrich Ebert, hier mit Fritz Hesse (links) und Heinrich Deist (rechts), November 1922. Aus: Fritz Hesse: Erinnerungen an Dessau, Bd. 1: Von der Residenz zur Bauhausstadt, 2. Aufl., Dessau 1995.
Willy Knorr. Aus: Ziegler, G.: Kommunale Spitzenbeamte Anhalts. Biographische Skizzen 1832 – 1933, Dessau 1995, S. 88.
Johannes Rammelt. Aus: Ziegler, Günter: Parlamentarismus in Anhalt, Bd. 3: Die anhaltischen Landes- und Reichstagsabgeordneten zwischen 1918 (1919) und 1933, Dessau 1995, S. 34.

Der Freistaat Anhalt wurde fast die gesamte Zeit der Weimarer Republik (1918-1933) von einer Koalition aus Sozialdemokraten (MSPD bzw. SPD) und der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) regiert. Nach den ersten demokratischen Landtagswahlen im Dezember 1918 wurde zunächst eine Übergangsregierung unter Wolfgang Heine (1861 – 1944) gebildet. Ab Mitte des Jahres 1919 übernahm Heinrich Deist (1874 – 1963), wie sein Vorgänger Sozialdemokrat, das Amt des Präsidenten des Staatsrates von Anhalt. Später hieß der Regierungschef Ministerpräsident von Anhalt. Deist übte dieses Amt bis 1932 nur mit einer kurzen Unterbrechung im Jahr 1924 sehr erfolgreich aus. Letztendlich musste er und seine Koalitionsregierung nach einer Wahlniederlage Platz für die erste NSDAP-geführte Landesregierung machen.[1]

Oberflächlich erscheint damit die Zeit zwischen 1918/19 und 1932 als verhältnismäßig friedlich und von großer Kontinuität geprägt. Dagegen denke man nur an die allgemeinen Tendenzen und Verhältnisse in der Weimarer Republik, die von ständig wechselnden Reichskanzlern und -kabinetten geprägt war. Ein Regierungschef mit einer dreizehnjährigen Amtszeit ist demgegenüber etwas Bemerkenswertes. Nichtsdestotrotz gab es auch Rückschläge und Niederlagen in dieser Zeit. Die vordergründige ist die kurze Regierungszeit des Ministerpräsidenten Willy Knorr (1878 – 1937) im Jahr 1924.[2]

Schon die Landtagswahlen vom 6. Juni 1920 hatten der Regierungskoalition herbe Verluste beschert. MSPD und DDP verfügten danach lediglich über 19 von 36 Sitzen im anhaltischen Landtag und damit über eine denkbar knappe Mehrheit von nur einer Stimme. Die Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD) und die rechtskonservative Deutschnationale Volkspartei (DNVP) stellten je sechs Abgeordnete, die rechtsliberale Deutsche Volkspartei (DVP) verfügte über fünf Sitze im Landesparlament.

Vier Jahre später, bei den nächsten Wahlen, setzte sich dieser Trend weiter fort. Die am 22. Juni durchgeführte Abstimmung brachte einerseits mehr Gruppierungen in den Landtag, andererseits verlor die Regierungskoalition ihre Mehrheit. Zwar konnte die SPD ihr Ergebnis verteidigen und wieder 13 Sitze erringen. Herbe Verluste musste aber die DDP hinnehmen. Nur noch 3,5 % der Stimmen bedeuteten lediglich einen Sitz, statt bis dato sechs. Die Übrigen der insgesamt 36 Sitze verteilten sich folgendermaßen: DVP 6, DNVP und KPD je 5, Landbund 3, Völkische 2, Hausbesitzer Stadt und Land, Hausbesitzer und Gewerbe sowie Bodenreform je 1. Die extreme Zersplitterung und der Unwillen einiger Parteien, miteinander zu arbeiten, verhinderte zunächst eine Regierungsbildung. Beispielsweise scheiterte eine Koalitionsbildung von SPD, DDP und DVP vor allem an der Abneigung der liberalen Parteien untereinander.[3]

Nach einigem Hin und Her gelang es dem DNVP-Abgeordneten Willy Knorr einen Rechtsblock zu bilden und sich mit der relativen Mehrheit von 17 Stimmen zum Ministerpräsidenten einer Minderheitsregierung wählen zu lassen. Der in Zerbst geborene Knorr war promovierter Jurist und schon längere Zeit in verschiedenen Spitzenpositionen im anhaltischen Staatsdienst tätig. Er galt als Verwaltungsfachmann, beruflich und persönlich im Kaiserreich sozialisiert. Seine politische Grundüberzeugung war von konservativen Idealen geprägt. Dogmatismus kann man ihm dagegen keineswegs unterstellen, da in Fragen der Sacharbeit die Parteizugehörigkeit seines Gegenübers für ihn nicht Priorität hatte. Nach dem Übergang in den Ruhestand wurde er Präsident des Landeskirchenrates in Anhalt. Im Jahr 1932 gehörte er für kurze Zeit der NSDAP-geführten Regierung unter Alfred Freyberg (1892 – 1945) als Minister an.[4] Als Staatsminister wurden Willy Knorr der Schulrat und spätere Direktor der Anhaltischen Landesbücherei Johannes Rammelt (DVP) und der Ministerialrat Hugo Jäntsch (DNVP) zur Seite gestellt. Beide waren ebenfalls im anhaltischen Staatsdienst in höherer Stellung tätig und langjährige Mitglieder des anhaltischen Landtags.[5]

Die Regierung hatte von Beginn an eine sehr unsichere Grundlage. Zwar scheiterte ein Misstrauensvotum der Kommunisten. Doch lagerübergreifend wurde man sich schnell darüber einig, dass man die missliche Lage, bedingt durch die unklaren Verhältnisse, mit einer baldigen Neuwahl begegnen möchte. Als Neuwahltermin wurde der 9. November 1924 festgesetzt.[6]

Die neue Regierung versuchte mit einer schnellen und erfolgreichen Sacharbeit Zeichen zu setzen. Ziel war es, in der nächsten Wahl den Stimmenanteil nochmals zu erhöhen und bestenfalls als klarer Sieger hervorzugehen, um eine stabile Regierung bilden zu können. Obwohl dem Dessauer Oberbürgermeister Fritz Hesse (1881 – 1973) die „Ausschaltung der Sozialdemokratie aus der Regierungsverantwortung und die Leitung der Regierungsgeschäfte durch ein von der DNVP beherrschtes Ministerium [als] ein unnatürlicher Zustand [erschien]“[7], gelang es doch, eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen der Regierung Knorr und dem Dessauer Stadtoberhaupt zu etablieren. Hesse spricht sogar von angenehmen persönlichen Beziehungen und der Hoffnung auf weitere vertrauensvolle Zusammenarbeit auch mit der neuen Regierung. Innerhalb des Parlaments hielt sich die neue Regierung ebenfalls nicht mit Lagerkämpfen auf. Es gab keine unüberbrückbare Frontstellung zur alten Regierung, die jegliche Zusammenarbeit grundsätzlich ausgeschlossen hätte.

Einige größere Vorhaben konnte die Regierung Knorr auch tatsächlich umsetzen und erfolgreich abschließen. So konnte die Flugplatzfrage endgültig geklärt werden. Den Junkers-Werken wurden mit der Unterstützung von Landesregierung und Stadt Dessau größere Freiflächen zur Verfügung gestellt. Zu nennen wären noch eine Reform des Salzbergwerkes in Leopoldshall und den Abschluss der Auseinandersetzung mit der Landeskirche. Bei all diesen Projekten gab es allerdings schon größere Vorarbeiten der Vorgängerregierung, auf die man gut aufbauen konnte.

Sicherlich schon mit Blick auf den anstehenden Wahlkampf wurde von der Regierung Knorr der Plan verkündet, ein großes Wirtschaftsförderprogramm aufzulegen, welches mit Anleihen von insgesamt 30. Mio. Mark finanziert werden sollte. Für den Kleinstaat Anhalt wäre das eine riesige Summe gewesen, die den Staatshaushalt länger beeinflusst hätte. Dementsprechend kontrovers waren die Diskussionen im Wahlkampf darüber.[8]

In der Hoffnung, dadurch mehr Stimmen gewinnen zu können, traten die rechten Parteien zur Landtagswahl am 9. November 1924 nicht einzeln an, sondern im Verbund als sogenannte „Volksgemeinschaft“ Dazu gehörten die DNVP, die DVP und kleine Gruppierungen wie Landbund, Bauernbund und Hausbesitzer. Das Kalkül ging nicht auf. Die alte Koalition konnte im Gegensatz zu den Wahlen im Sommer Stimmen zurückgewinnen. Die SPD kam auf 15, die DDP auf drei Sitze. Wenige Wochen später wurde Heinrich Deist mit den Stimmen der SPD, DDP und Bodenreform wieder zum Ministerpräsidenten gewählt.[9]

Im Nachhinein scheint die wenige Monate bestehende Regierung Willy Knorr nur eine Ausnahme, ein Übergang oder auch Provisorium gewesen zu sein; so titelte beispielsweise die Zeitung der Anhalter Kurier. Bemerkenswert an diesen Vorgängen ist jedoch, wie lautlos und scheinbar einvernehmlich die jeweiligen Regierungswechsel von statten gegangen sind. Von keiner Seite wurde der ernsthafte Versuch unternommen, sich gewaltsam an der Macht zu halten. Dazu wird bei allen Beteiligen der Wille zur konstruktiven Sacharbeit deutlich, die auch ohne Parteiideologie über politische Lagergrenzen hinweg möglich sein soll. Das ist sicherlich ein Spezifikum der politischen Kultur eines Kleinstaates. Mehr als in größeren Kontexten hängt vieles von guten persönlichen Beziehungen ab, was Partei- und Lagergrenzen oftmals verschwimmen lässt.

 

Anmerkungen

* Fritz Hesse: Erinnerungen an Dessau, Bd. 1: Von der Residenz zur Bauhausstadt, 2. Aufl., Dessau 1995, S. 175.

[1] Vgl. Ralf Regener: Der Freistaat Anhalt in den Anfangsjahren der Weimarer Republik, in: Revolutionäre Zeiten zwischen Saale und Elbe. Das heutige Sachsen-Anhalt in den Anfangsjahren der Weimarer Republik, hg. v. Patrick Wagner und Manfred Hettling, Halle (Saale) 2019, S. 47 – 68, hier S. 61 – 66.

[2] Vgl. Günter Ziegler: Die politischen Verhältnisse während der Weimarer Republik und das Wirken des Ministerpräsidenten Heinrich Deist in Anhalt (Sachsen-Anhalt. Beiträge zur Landesgeschichte, Bd. 17) Halle (Saale) 2000, S. 7 – 33.

[3] Vgl. Günter Ziegler: Parlamentarismus in Anhalt, Bd. 3: Die anhaltischen Landes- und Reichstagsabgeordneten zwischen 1918 (1919) und 1933, Dessau 1995, S. 9 f.

[4] Vgl. Helge Dvorak: Biographisches Lexikon der Deutschen Burschenschaft. Band I: Politiker. Teilband 7: Supplement A–K. Winter, Heidelberg 2013, S. 565 f.

[5] Vgl. Günter Ziegler: Persönlichkeiten der Verwaltung. Biographische Skizzen zur anhaltischen Verwaltungsgeschichte 1800-1933, Dessau 1994, S. 36 und 57 f.

[6] Vgl. Ziegler: Parlamentarismus 3 (wie Anmerkung 3), S. 9 f.

[7] Fritz Hesse: Erinnerungen an Dessau (wie Anmerkung *), S. 175.

[8] Vgl. Ebd., S. 174 f.

[9] Vgl. Ziegler: Parlamentarismus 3 (wie Anmerkung 3), S. 10.