Der Rotmilan in seiner natürlichen Umgebung
Martin Kolbe | Ausgabe 3-2022 | Natur und Umwelt
Der Einfluss der Landwirtschaft auf die Nahrungssuche
Der Verlust der Biodiversität in der Agrarlandschaft ist ein Thema, das in den letzten Jahren immer dringender wurde und auch große mediale Aufmerksamkeit erhielt. Durch Druck der Naturschutzverbände auf die Politik wurde eine EU-Agrarreform beschlossen, die dazu beitragen soll, den Verlust von Artenvielfalt in den landwirtschaftlich genutzten Gebieten aufzuhalten, die Produktion auf den Flächen nachhaltiger zu gestalten sowie gleichzeitig die Planungssicherheit und die Lebensgrundlage der Betriebe nicht zu gefährden. Um möglichst alle Belange vereinen zu können, hat die EU-Kommission einen Kompromiss erarbeitet, der verschiedene Maßnahmen vorsieht, die unter dem Begriff „Greening“ zusammengefasst werden und von allen Landwirten umgesetzt werden müssen. So ist es für jeden landwirtschaftlichen Betrieb seit 2015 verpflichtend, mindestens drei Ackerkulturen anzubauen, Grünland zu erhalten und 5 % des Ackerlandes als „ökologische Vorrangfläche“ bereitzustellen. Diese „ökologischen Vorrangflächen“ können ganz unterschiedlich genutzt werden; für den Anbau von Zwischenfrüchten, für die Anlage von Blühstreifen oder zum Anlegen von Brachen. In diese Neuerungen wurden im Vorfeld von den Natur- und Umweltverbänden große Hoffnungen gesetzt, aber auch kritisiert, dass dies nicht ausreichen wird, um den Rückgang der Artenvielfalt aufzuhalten.
Da die nutzbaren Flächen durch Bebauung und Versiegelung immer weiter schrumpfen, stehen für die landwirtschaftliche Produktion immer weniger Flächen zur Verfügung. Durch die dichtschließende Vegetationsdecke auf den Feldern, zum Beispielbei Feldfrüchten wie Weizen, Gerste oder Raps, erreicht der Rotmilan einen wichtigen Teil seiner Beute nicht mehr: Mäuse und Feldvögel. Große Teile der Landschaft sind somit für ihn zur Nahrungssuche nahezu nicht mehr nutzbar.
In einer Untersuchung über vier Jahre hat sich das Rotmilanzentrum im nördlichen Harzvorland deshalb angeschaut, ob und wie sich die neuen ökologischen Vorrangflächen auf den Bestand und den Nachwuchs beim Rotmilan auswirken. Dazu wurde auf einer Fläche von fast 1.000 km² der Bestand des Rotmilans erfasst und die Jungvögel im Nest gezählt. Anschließend wurde überprüft, ob die angebauten Kulturen im Umfeld der Rotmilannester einen Einfluss auf die Anzahl der Jungen im Nest haben und insbesondere, ob sich ökologische Vorrangflächen positiv bemerkbar machen.
Das Ergebnis nach vier Jahren Arbeit war spannend und ernüchternd zugleich. So stellte sich heraus, dass nur sehr wenige ökologische Vorrangflächen in der Umgebung von Rotmilan-Nestern angelegt wurden. Somit konnte auch kein positiver Einfluss auf den Rotmilan nachgewiesen werden. Es ist nicht auszuschließen, dass diese Flächen für kleinere Tiere, insbesondere Insekten und Kleinvögel, einen Nutzen haben. Auch der Rotmilan wird über diesen Flächen nach Beute Ausschau halten, doch ist das Nahrungsangebot für ihn nicht üppig genug, um seine Jungen allein davon ernähren zu können. Obwohl die Auswirkungen für den Rotmilan (noch) nicht spürbar sind und es hinsichtlich der Anzahl der Jungen scheinbar keinen Unterschied macht, ob diese ökologischen Flächen in der Agrarlandschaft angelegt werden, sollte der Ansatz trotzdem weitergeführt werden. Die Untersuchung erfolgte früh nach Einführung der Reform und es ist gut möglich, dass es einige Jahre dauert, bis sich die Situation bei Insekten und Kleinvögeln verbessert. Der Verlust der Artenvielfalt, insbesondere in der Agrarlandschaft, ist im Moment eines der größten Probleme im Naturschutz. Der Rotmilan ist hier nur die Spitze des Eisberges und es sollte nichts unversucht bleiben, den Rückgang der Artenvielfalt aufzuhalten und umzukehren. Auch in Zukunft sollten deshalb neue landwirtschaftliche Maßnahmen ausprobiert und auf ihre Tauglichkeit zur Verbesserung der Artenvielfalt und des Nahrungsangebotes für Greifvögel untersucht werden.
Der Rotmilan und neu eingewanderte Tierarten
Neben dem Verlust und der Verschlechterung von Lebensräumen ist auch die Ausbreitung von Tier- und Pflanzenarten in Gebieten, in denen sie eigentlich nicht heimisch sind, weltweit problematisch. Auch in Sachsen-Anhalt führt die Einbürgerung oder Einwanderung von neuen Tieren und Pflanzen zu Konflikten. Bekannte Pflanzenarten sind der Riesen-Bärenklau und das Drüsige Springkraut. Unter den Tierarten haben es insbesondere Säugetiere wie Nutria, Marderhund und Waschbär ins allgemeine Bewusstsein geschafft. Unter den Vogelarten ist wahrscheinlich die recht bunt gefärbte Nilgans am bekanntesten.
Diese Tierarten werden als Neozoen (von néos „neu“ und zoon „Tier“) bezeichnet. Konflikte zwischen dem Rotmilan und diesen neuen Arten gibt es bei Waschbären und Nilgänsen. So ist es für Gänse eigentlich ungewöhnlich, in Bäumen zu brüten. Nicht so für die Nilgans. Sie beansprucht regelmäßig Greifvogelnester für sich, da sie selbst kein Nest baut. Bei der Nistplatzwahl und bei der Verteidigung ihres Reviers ist sie so aggressiv, dass selbst ein Rotmilan keine Chance hat, ein einmal besetztes Nest für sich zu beanspruchen. Es sind sogar Fälle bekannt, in denen Nilgänse brütende Rotmilanpaare aus ihrem Nest vertrieben haben. Die Eier und damit auch der Nachwuchs des Paares sind in einem solchen Fall verloren. Nach aktuellem Stand ist es so, dass jedes Jahr ein bis zwei Prozent der Rotmilannester von Nilgänsen besetzt werden. Die Rotmilane müssen sich dann entweder ein neues Nest bauen, oder können in dem Jahr nicht brüten. Mit einer weiteren Ausbreitung der Nilgans könnte sich dieser Konflikt weiter verstärken. Deshalb ist es sinn voll, dass die Nilgans nun auch in Sachsen-Anhalt in das Jagdrecht aufgenommen wurde und damit Auswirkungen auf die heimische Tierwelt verringert werden können.
Der Waschbär, ursprünglich in Nordamerika heimisch, konnte in den 1930er Jahren aus Pelztierfarmen entkommen und wurde später auch aus diesen freigelassen. Seitdem verbreitet er sich langsam aber sicher über ganz Deutschland. Der niedlich anzusehende Waschbär ist ein Allesfresser, der auch vor Amphibien, Eiern und Jungvögeln nicht Halt macht. Das nachtaktive Tier ruht sich tagsüber gern in Bäumen aus und schläft in Baumhöhlen und Astgabeln, nutzt aber auch gelegentlich Greifvogelnester. Es besteht der Verdacht, dass der Waschbär gezielt Nester, auch von Greifvögeln, aufsucht und plündert. Bei Vogelarten, die jedes Jahr nur zwei bis drei Junge großziehen, können sich solche Verluste schnell auf den Bestand auswirken. Aus diesem Grund haben Artenschützer vor einiger Zeit begonnen, die Nestbäume mit einer Klettersperre zu versehen, die verhindern soll, dass Waschbären zum Nest hinaufklettern können. Lange Zeit war jedoch ungeklärt, wie wirksam dieses aufwendige Schutzkonzept ist. Um diese Wissenslücke zu schließen und Akteure im Artenschutz besser beraten zu können, hat sich das Rotmilanzentrum mit dieser Thematik intensiv beschäftigt.
In zwei Projektgebieten in Sachsen-Anhalt wurden zahlreiche Nestbäume mit Klettersperren ausgestattet. Gleichzeitig wurden einige Brutbäume ungeschützt gelassen, um später besser einschätzen zu können, ob es einen Unterschied im Erfolg der Brutpaare gibt, wenn ein Baum vor den Waschbären geschützt ist oder nicht. Um zudem herauszufinden, ob der Waschbär tatsächlich für Verluste von Bruten auf den ungeschützten Bäumen verantwortlich ist, wurden die Baumstämme mit Wildkameras beobachtet.
Das Ergebnis ist vielversprechend. Im Verlauf der Brutzeit kann es aus verschiedenen Gründen dazu kommen, dass die Brut aufgegeben und das Nest verlassen wird. Beispielsweise können die Eier unbefruchtet sein. Wenn Jungvögel geschlüpft sind, können diese im Nest von anderen Greifvögeln erbeutet und gefressen werden oder an Krankheiten sterben. Dennoch zeigte sich, dass die Brutpaare, deren Nester geschützt waren, häufiger Erfolg hatten. An den Nestern mit einem Kletterschutz gingen die Bruten nur halb so oft verloren wie an ungeschützten Nestern. Die Klettersperren scheinen also ein guter Schutz für die Bruten der Greifvögel zu sein. Auch die Auswertung der Wildkameras, mit denen die ungeschützten Bäume beobachtet wurden, brachte spannende Ergebnisse. Der Waschbär war an fast allen Bäumen zu beobachten. In den meisten Fällen ist er aber nur am Baum vorbeigelaufen und nur sehr selten ist er auf einen Baum hinaufgeklettert. Deshalb ist zu vermuten, dass Waschbären Greifvogelnester nicht gezielt aufsuchen.
Aus den Beobachtungen von Vogelkundlern der letzten 20 Jahre ist bekannt, dass der Rotmilan sein Nest mittlerweile an anderen Stellen im Baum baut. Vor 30 oder 40 Jahren, als es noch kaum Waschbären in Sachsen-Anhalt gab, brütete der Rotmilan meist in recht geringer Höhe direkt am Hauptstamm der Bäume. Heute ist das sehr selten. Inzwischen brütet er oft in großer Höhe in den Ästen, die weit vom Hauptstamm entfernt sind. Es ist gut möglich, dass das eine Anpassung des Rotmilans an den Waschbären ist, weil es so für diesen deutlich unwahrscheinlicher wird, zufällig am Nest vorbeizukommen bzw. es viel schwieriger wird, die Nester zu erreichen. Es hat sich also gezeigt, dass es zwar sinnvoll ist, Klettersperren an Bäumen anzubringen, jedoch lohnt sich der Aufwand nur in Gebieten, wo es tatsächlich auch viele Waschbären gibt.
Was machen junge Rotmilane, wenn sie das Nest verlassen haben?
Obwohl sich Vogelkundler und Wissenschaftler seit Jahrzehnten mit Greifvögeln beschäftigen, gibt es noch immer Fragen, die bis heute niemand beantworten kann. Eine solche Frage lautet: Was machen junge Rotmilane, wenn sie das Nest verlassen? Diese Frage ist, wenn es darum geht, das Überleben dieser Tiere zu sichern, mit Blick auf die sich verringernde Population der Rotmilane essentiell.
In Sachsen-Anhalt wurde bereits in den 1960er Jahren begonnen, regelmäßig Rotmilane zu markieren, um sie wiedererkennen zu können. Den Rotmilanen wurden kleine, mit einer einmaligen Zahlenkombination versehene Metallringe um das Bein gelegt. Fand man dann einen Vogel mit einem solchen Ring wieder, konnte nachvollzogen werden, wie alt er ist und woher er stammt. Diese „Beringung“ ist auch heute noch das wichtigste und einfachste Mittel der wissenschaftlichen Forschung. Bekannt ist heute zum Beispiel, dass die in Sachsen-Anhalt im Sommer brütenden Rotmilane im Winter nach Spanien und Frankreich ziehen. Leider werden die meisten Funde von Ringen gemacht, wenn der Vogel bereits tot ist. Dadurch stehen kaum Informationen zum Werdegang des Vogels zur Verfügung. Aus diesem Grund wurde damit begonnen, Vögel mit Markierungen auszustatten, die auch aus größerer Entfernung, beispielsweise mit einem Fernrohr oder einem Fernglas, erkannt werden konnten. Dazu wurden an den Flügeln kleine Markierungen angebracht, die durch ihre Farbe und die Zahl darauf unterscheidbar waren. Diese „Flügelmarken“ brachten in kurzer Zeit viele neue Erkenntnisse, beispielsweise dass Rotmilane ihrem Nistplatz, aber auch ihrem Partner über mehrere Jahre treu sein können. Ebenso schien sich die Vermutung zu bestätigen, dass sich junge Rotmilane bevorzugt unweit ihres eigenen Geburtsortes ansiedeln, jedoch erst brüten, wenn sie drei Jahre oder älter sind.
Trotz dieser für den Schutz der Art wichtigen Erkenntnisse blieb die eingangs gestellte Frage bis zur Entwicklung neuer Techniken und Methoden unbeantwortet. Ein wichtiger Meilenstein war die Entwicklung von Peilsendern, die den Rotmilanen auf den Rücken geschnallt werden. Heute ist die Technik so ausgereift, dass junge Rotmilane bereits im Nest mit kleinen Sender ausgestattet werden und über mehrere Jahre hinweg genau beobachtet werden kann, wo sich der Vogel aufhält.
Seit 2017 hatte das Rotmilanzentrum in Sachsen-Anhalt die Möglichkeit, an einem Pilotprojekt mitzuwirken und junge Rotmilane im Nest zu besendern. Seit Ende 2019 werden diese Bemühungen in einem großen Artenschutzprojekt gebündelt, an dem 12 europäische Länder bzw. 40 Gebiete beteiligt sind. Das Projekt mit dem Namen Life EUROKITE (www.life-eurokite.eu) wird über Fördermittel für den Naturschutz von der EU-Kommission gefördert und soll die Frage beantworten, was mit den jungen Rotmilanen nach dem Verlassen des Nestes passiert. Inzwischen wurden in Sachsen-Anhalt mehr als 150 junge Rotmilane aus mehr als 80 Nestern besendert. Der Aufwand dafür ist enorm. Zuerst müssen die Nester gefunden werden. Später im Jahr wird der Verlauf der Brut mehrfach kontrolliert. Sind Jungvögel im Nest zu sehen, muss ihr Alter eingeschätzt werden, um den idealen Zeitpunkt für das Anlegen des Senders zu bestimmen. Im besten Fall sind die jungen Rotmilane zwischen 35 und 40 Tagen alt, wenn das Gefieder schon fast vollständig ausgebildet ist, sie aber noch nicht flugfähig sind. Sobald der richtige Zeitpunkt bestimmt wurde, klettert ein Team des Rotmilanzentrums mit einer speziellen Ausrüstung zum Nest hinauf. Die jungen Rotmilane werden dann in einem Sack zum Boden heruntergelassen, wo ihnen der Sender wie ein Rucksack auf den Rücken geschnallt wird und sie vermessen und beringt werden. Nach kurzer Zeit werden sie dann wieder zurück ins Nest gesetzt.
Inzwischen liegen auch die ersten Ergebnisse des beschriebenen Projekts vor. Ein wenig frustrierend ist zunächst die Erkenntnis, dass fast ein Drittel der im Nest markierten Vögel gar nicht ausfliegt. Das heißt, sie sterben noch im Nest. Obwohl die Vögel erst den Sender bekommen, wenn sie schon fast fliegen können, gibt es ab diesem Zeitpunkt noch hohe Verluste. Die Ursachen dafür sind in den meisten Fällen die Prädation, das heißt, die Jungvögel werden von anderen Beutegreifern wie Habicht, Uhu oder auch Waschbären erbeutet und gefressen. In manchen Fällen missglücken auch die ersten Flugversuche und die Vögel fallen aus dem Nest und werden anschließend vom Fuchs erbeutet. Bisher ging man davon aus, dass die Vögel in diesem Stadium alle überleben würden, weshalb das Ergebnis sehr überraschend war. Doch auch für jene Rotmilane, die erfolgreich ausflogen, ergaben sich aufschlussreiche Befunde. Nach dem Verlassen des Nestes begannen sie, nach und nach die Umgebung zu erkunden, bis sie schließlich das elterliche Revier verließen. Bereits Anfang September fliegen junge Rotmilane ohne Hilfe der Eltern in die Überwinterungsgebiete an den Rand der Pyrenäen in Frankreich bzw. in den meisten Fällen nach Spanien.
Auf dem Zug in die Überwinterungsgebiete sind die Rotmilane einer Vielzahl von Gefahren ausgesetzt. Kollisionen mit Fahrzeugen und Zügen stellen momentan die häufigste vom Menschen verursachte Todesursache dar. Leider gibt es kaum effektive Maßnahmen, um diese Verluste zu verhindern. Die Vergiftung und der Abschuss von Rotmilanen (und vieler anderer Vogelarten) ist in Südeuropa ein weiteres großes Problem. Auch in Spanien und Frankreich sind diese Handlungen gesetzlich verboten, doch ist es schwer, solche Vorfälle in den weiten, dünn besiedelten Gebieten zu entdecken. Das EUROKITE-Projekt hatte von Anfang an das Ziel zu ermitteln, wo und woran die Rotmilane sterben. Deshalb werden alle Totfunde akribisch dokumentiert. Sofern ein Verdacht auf illegale Handlungen vorliegt, wird die Polizei informiert und mit dieser zusammen Beweise gesammelt. So kann die Strafverfolgung effektiv unterstützt werden.
Im zeitigen Frühjahr, meist Ende Februar, beginnen die Rotmilane dann mit dem Zug in ihre Brutgebiete. Doch nicht alle haben es eilig, dorthin zu kommen. Während die älteren Rotmilane früh im Jahr losfliegen und sich auf direktem Weg „nach Hause“ begeben, lassen sich die jungen Rotmilane, die das erste Mal in diese Richtung fliegen, Zeit. Sie fliegen deutlich später los und sind auch meist etwas langsamer unterwegs. Da sie in ihrem zweiten Lebensjahr noch nicht brüten, haben sie es nicht eilig. Auch dieses Verhalten war vorher völlig unbekannt und konnte dank der Besenderung erstmals beobachtet werden.
Der erste Brutversuch eines als Jungvogel besenderten Rotmilans erfolgte im Alter von drei Jahren. Andere Rotmilane haben selbst nach fünf Jahren noch kein festes Revier besetzt und keinen Brutversuch unternommen. Bisher lässt sich aus diesen Beobachtungen noch keine allgemein gültige Regel für das Alter der ersten Brut ableiten.
Doch warum ist das alles wichtig? Wenn bekannt ist, wo die menschengemachten Gefahren für den Rotmilan am größten sind, können auch entsprechende Maßnahmen für seinen Schutz ergriffen werden. Außerdem ist es wichtig, die Zusammenhänge innerhalb der Art zu verstehen. Brütet der eine Vogel erst in seinem sechsten Lebensjahr, weil er kein freies Revier gefunden hat, oder ist er vielleicht mit Schadstoffen belastet, die dazu führen, dass er ein verändertes Verhalten zeigt? Da es sich um ein großes internationales Projekt handelt, in dem viele Partner aus verschiedenen Ländern gemeinsam arbeiten, sind auch grenzübergreifende Maßnahmen und Schutzansätze im Anschluss leichter umsetzbar.
Wo finden Rotmilane ihre Nahrung?
Der Rotmilan ist eine langlebige Vogelart. Zwar haben gerade die jungen und unerfahrenen Vögel ein großes Risiko zu sterben, doch nimmt die Gefahr mit zunehmendem Alter ab. Im Moment geht man davon aus, dass ein Rotmilan im Schnitt ungefähr neun Jahre alt wird. Es gibt aber auch Individuen, die über 20 Jahre alt geworden sind. Den Altersrekord hält ein weiblicher Rotmilan, der 29 Jahre nach seiner Beringung als Nestling nur wenige Kilometer von seinem Geburtsort entfernt tot aufgefunden wurde. Um eine so lange Zeit in einer sich verändernden Umwelt überleben zu können, muss man anpassungs- und lernfähig sein. Aus Beobachtungen ist bekannt, dass Rotmilane Stellen, an denen sie über eine gewisse Zeit Futter gefunden haben, auch nach einigen Jahren noch gezielt anfliegen, um nachzuschauen, ob es dort etwas Fressbares gibt.
Zu verstehen, welche Strukturen Rotmilane in der Landschaft benötigen, um genug Futter für ihre Jungen zu finden und wo sie tatsächlich erfolgreich Beute machen, ist für den Schutz der Art ebenfalls eine wichtige Frage. Deshalb hat das Rotmilanzentrum in den letzten Jahren mehrere erwachsene Rotmilane, die selbst bereits brüten, mit einem Sender ausgestattet. Die Sender übermitteln in regelmäßigem Abstand, wo sich der Rotmilan aufgehalten hat. Im „Normalfall“ bestimmt der Sender alle fünf Minuten seine Position und übermittelt diese Daten gebündelt einmal am Tag. Aus den ersten Daten lässt sich ablesen, dass Rotmilane fest abgegrenzte Reviere haben, die sie gegen Eindringlinge verteidigen und während der gesamten Brutzeit täglich abfliegen. Bis vor einigen Jahren ging man davon aus, dass Rotmilane nur den unmittelbaren Nestbereich gegen Artgenossen verteidigen und keine großflächigen Reviere haben. Tatsächlich sind die Reviere jedoch so groß, dass sie für eine zuverlässige Nahrungsversorgung ausreichen. Je größer ein Revier ist, umso schlechter ist das Nahrungsangebot. Das spiegelt sich auch in der Anzahl der Jungen wider. Je kleiner das Revier ist, umso mehr Jungvögel befinden sich in der Regel im Nest. Bei Paaren mit sehr großen Revieren kann hingegen nur ein Jungvogel ausreichend versorgt werden. Für den Artenschutz ist es eine der wichtigsten Erkenntnisse, dass Rotmilane überhaupt Reviere haben. So kann beispielsweise eine Fläche mit einem sehr guten Futterangebot im schlimmsten Fall nur von einem Rotmilanpaar genutzt werden, weil sie innerhalb eines Reviers liegt. Um mehrere Brutpaare zu unterstützen, müssen viele Flächen mit einem verbesserten Nahrungsangebot in der Landschaft vorhanden sein.
Inzwischen können die Sender sogar jede Sekunde Daten aufnehmen. Damit lässt sich nicht nur nachvollziehen, an welcher Stelle sich ein Vogel zu einem bestimmten Zeitpunkt befand, sondern auch, was er an dieser Stelle gemacht hat. Der Rotmilan als guter Segelflieger greift kleine Beutestücke wie Mäuse und Vögel fast immer im Vorbeifliegen und lässt sich nur an großen Beutestücken wie einem verendeten Reh nieder. Mit Hilfe der Sender lässt sich erkennen, ob der Rotmilan an einer Stelle in der Thermik gekreist ist, ob er auf dem Boden oder in einem Baum gesessen hat oder ob er gerade versucht hat, im Flug Beute zu schlagen. Diese Daten sind sehr wertvoll, da so die wichtigen Stellen, an denen der Rotmilan regelmäßig Nahrung findet, identifiziert werden können. Mit diesem Wissen lassen sich Maßnahmen in der Landschaft umsetzen, die dem Rotmilan tatsächlich nützen werden.