Mit Nagelschere und Sekundenkleber. In der Börde erhalten junge Rotmilane einen Funksender

John Palatini | Ausgabe 3-2022 | Natur und Umwelt

Vorbereitungen für das Vermessen, Beringen und Besendern. Foto: Matthias Behne, laut wie leise.
Utensilien für das Beringen. Foto: Matthias Behne, laut wie leise.
Rotmilan-Nest in einer Pappel. Foto: Matthias Behne, laut wie leise.
Die Nester sind weit oben in der Krone der Bäume. Foto: Matthias Behne, laut wie leise.
Um die Jungvögel markieren zu können, müssen sie von einem Baumkletterer aus dem Nest geholt und in einem Beutel zum Boden herabgelassen werden. Foto: Matthias Behne, laut wie leise.
Während der Baumkletterer zum Nest hinauf klettert, um die jungen Rotmilane aus dem Nest zu holen, wird unter dem Baum bereits alles vorbereitet. Foto: Matthias Behne, laut wie leise.
Der Baumkletterer nähert sich dem Rotmilan-Nest. Gut sichtbar ist die Klettersperre am Baum. Foto: Matthias Behne, laut wie leise.
Sobald die Jungvögel unten sind, können sie vermessen, gewogen, markiert und besendert werden. Foto: Matthias Behne, laut wie leise.
Eigentlich werden junge Greifvogel in Anwesenheit von Menschen aggressiv und versuchen, sich zu verteidigen. Nicht so die jungen Rotmilane. Sie tun so, als ob sie bereits tot wären und geben so dem „Angreifer“ keinen Vorwand, sie noch mehr zu verletzen. Foto: Matthias Behne, laut wie leise.
Junge Rotmilane bei der Besenderung. Foto: Matthias Behne, laut wie leise.
Die Jungvögel werden behutsam beringt. Foto: Matthias Behne, laut wie leise.
Um die Vögel nicht zu sehr zu stressen, muss alles schnell, aber trotzdem ruhig und behutsam vor sich gehen. Foto: Matthias Behne, laut wie leise.

An Egeln mit seinem markanten Wasserturm vorbei geht es auf der B 81 in Richtung Kroppenstedt. Kurz vor der kleinen Landstadt verlassen wir die Bundesstraße, um über einen Feldweg den verabredeten Treffpunkt zu erreichen. Auf einer Wiese sind Martin Kolbe, der das Rotmilanzentrum am Heineanum in Halberstadt leitet, und seine Kollegin Manuela Merling de Chapa bereits damit beschäftigt, Funksender vorzubereiten, die heute an jungen Rotmilanen angebracht werden sollen. Im Fachjargon heißt diese Prozedur ‚besendern‘.

Kolbe und seine Kollegin sind in ihre Vorbereitung vertieft, bevor es bei blauem Himmel und Sonnenschein zu Fuß an den Bördefeldern den trockenen Sieckgraben entlanggeht. Wir durchqueren einen mit niedrigen Bäumen bestandenen Feldrain und erreichen nach wenigen Metern eine imposante Pappel. Hier wartet Eike Steinborn, der das Team des Rotmilanzentrums am heutigen Tag als Baumkletterer komplettiert. Kolbe zeigt in die Höhe auf das gut erkennbare Nest der Rotmilane, das auf einem ausladenden Ast platziert liegt. Steinborn, der inzwischen seine Klettermontur angelegt hat, nutzt routiniert einen Wurfbeutel, um den ersten Kletterabschnitt durch ein Seil zu sichern. Dann setzt er an und überwindet zunächst die Plexiglasummantelung des Stammes, die dem Schutz des Milannestes vor Waschbären dient. Am Boden breiten Kolbe und Manuela Merling de Chapa unterdessen eine Plane aus, auf der sie verschiedene Messinstrumente und die ersten der nur 15 Gramm schweren Sender drapieren. In der Vergangenheit, erklärt Kolbe, hätten sich solche Sender, die ihren Strom aus einem Solarmodul beziehen, als ausgesprochen langlebig erwiesen. Daher sei es entscheidend, sie auf den Rücken der Tiere so anzubringen, dass sie einerseits nicht wieder abfallen, sie aber andererseits die Vögel nicht behindern. Um den sicheren Halt zu gewährleisten, bedient sich Kolbe einer Mischung aus Hightech und einfachster Hausmittel. Ein Band aus reinem Teflon, das besonders wenig Reibung erzeugt und dadurch das Gefieder der Vögel schont, legt er zunächst über Kreuz, so dass eine Schlaufe entsteht, durch die später der Kopf des Vogels gesteckt wird. Anschließend vernäht er das Band fingerfertig mit langlebiger Zahnseide und beträufelt die Nahtstelle mit Sekundenkleber, der in die Poren des Teflonbandes einzieht und dafür sorgt, dass sich diese Verbindung nicht mehr löst.

In der Zwischenzeit ist Steinborn in über 15 Metern Höhe angekommen. Dort arbeitet er sich gekonnt den schmaler werdenden Ast entlang und erreicht schließlich das Nest. Wenig später schwebt der erste Jungvogel in einem Beutel herab. Kolbe nimmt ihn behutsam in Empfang und legt ihn vor sich hin. Es ist ein gutes Zeichen für den Erfolg der Brut, dass sich das Prozedere noch zweimal wiederholt, bis schließlich drei Vögel auf dem Boden angekommen sind. Tatsächlich handelt es sich um ein Wiedersehen, denn die Naturschützer waren schon mehrfach hier, um das Nest zu beobachten und auch die noch flugunfähigen Jungvögel selbst in Augenschein zu nehmen.

Dass die Milane wie tot daliegen, muss jeden Laien zunächst verblüffen. Die Starre ist so vollkommen, dass man dem Gedanken verfallen könnte, die Vögel seien nicht aus Fleisch und Blut. Die Naturschützer haben dadurch leichtes Spiel. Routiniert vermessen Kolbe und seine Kollegin Körper-, Flügel- und Schnabellänge sowie das Gewicht der ungefähr 35 Tage alten Tiere, die auch diese Prozedur völlig regungslos hinnehmen. Über allem kreisen die Altvögel. Es scheint, als beäugten sie die Szene mit stoischer Ruhe.

Die Flügellänge der jungen Exemplare am Boden beträgt im Durchschnitt bereits 40 Zentimeter, das Gewicht 1.000 Gramm. Damit hätten sich die drei Geschwister, deren Geschlecht sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht feststellen lässt, prächtig entwickelt, so Kolbe, der sich, nachdem alle Daten erhoben sind, nun der eigentlichen Besenderung zuwendet. Dazu nimmt er eines der vor bereiteten Teflonbänder, führt den Kopf des ersten Jungvogels durch die zuvor geschaffene Schlaufe und verknüpft einen der Sender mit dem Band, dessen Enden er anschließend um die Flügel des Vogels windet und auf dessen Rücken wieder zusammenführt. Nagelschere, Nadel und Zahnseide leisten erneut wertvolle Dienste, bevor auch die zweite Nahtstelle von Kolbe mit Sekundenkleber beträufelt wird.

Nachdem die Arbeit getan ist, werden die Vögel einzeln im roten Stoffbeutel wieder nach oben befördert und von Steinborn ins Nest zurückgesetzt. Die Altvögel, erklärt Kolbe, störten sich an dem Menschenbesuch nicht. Dass sie ihre Brut anschließend ignorieren, komme nicht vor.

Bei 2.300 Brutpaaren und im Schnitt 1,5 Nachkommen rechnet Kolbe in dieser Saison mit 3.600 Jungvögeln in Sachsen-Anhalt. 25 von ihnen erhalten einen Sender, bevor sie das Nest verlassen. Sechs davon hat das Team des Rotmilanzentrums an diesem Tag noch auf dem Zettel.