„In jeder Sekunde möchte ich nach Hause“

Ein Gespräch mit der 96-jährigen, aus der Ukraine geflohenen Anastasia Gulej

| Ausgabe 2-2022 | Interview

Anastasia Gulej in Bad Kösen. Foto: Matthias Behne, lautwieleise
Anastasia Gulej in ihrer Unterkunft. Foto: Matthias Behne, lautwieleise
Anastasia Gulej im Gesprach mit Christian Kuhlmann (links) und John Palatini (rechts). Foto: Matthias Behne, lautwieleise
Auszeichnungen für persönliche Verdienste: der ukrainische‚Orden der Fürstin Olga‘ und das deutsche ‚Verdienstkreuz am Bande‘. Foto: Matthias Behne, lautwieleise
,Telefonisches Dolmetschen‘: Lina Navrotska übersetzt aus dem Ukrainischen. Foto: Matthias Behne, lautwieleise
Im Uhrzeigersinn: John Palatini, Maik Reichel, Anastasia Gulej, Valentyna Gulej, Christian Kuhlmann. Foto: Matthias Behne, lautwieleise
Anastasia Gulej in der Eingangstür ihrer Unterkunft in Bad Kösen. Foto: Matthias Behne, lautwieleise
Anastasia Gulej mit Tochter Valentyna auf dem Weg in ihre Naumburger Unterkunft. Foto: Matthias Behne, lautwieleise

Sehr geehrte Frau Gulej, wir treffen uns hier in Bad Kösen aus aktuellem Anlass. Am 24. Februar 2022 hat die Russische Föderation einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen. Sie sind im März aus Kyjiw vor diesem Krieg geflohen. Wie haben Sie diesen Überfall unmittelbar erlebt?

Es scheint mir zunächst so, als wäre ich schon hundert Jahre in Deutschland. Ich bin zwar erst vor Kurzem nach Deutschland gekommen, aber die Zeit geht einfach so schnell. Seit meiner Ankunft habe ich die große Hoffnung, dass die Welt und die Ukraine noch nicht verloren sind, da ich hier so viele nette und hilfsbereite Menschen kennengelernt habe. Was die unmittelbaren Erlebnisse betrifft: Ich denke, meine Reaktion auf die Nachricht vom Kriegsbeginn war typisch für Frauen: Ich habe Putin und alle Angreifer verflucht, sie mit bösesten Worten verwünscht. Und dann habe ich aber auch gleichzeitig zu Gott gebetet, damit er uns Ukrainern die Stärke gibt, dieses Ungeheuer zu besiegen.

Sie haben darauf auch implizit einen geschichtlichen Vergleich gezogen, indem sie sagten: „Ich habe Hitler überlebt, ich habe Stalin überlebt und ich werde auch dieses Arschloch Putin überleben.“ Erinnert Sie dieser Krieg also auch an die Zeit des Zweiten Weltkriegs, insbesondere mit Blick auf den deutschen Überfall auf die Sowjetunion?

Dieser Krieg ist eine Kopie – die Geschichte wiederholt sich. Übrigens habe ich schon damals bei meinen Besuchen in Bergen-Belsen die Zuhörer ermahnt, sie sollten sich für die die ‚Dichter und Denker‘ ihres Landes interessieren, nicht für die Werke von Goebbels und Hitler. Denn in einem Interview mit Putin habe ich mitbekommen, dass er Goebbels Werke sehr gerne liest. Das war die erste ‚rote Linie‘ für mich. Denn wie kann ein Mensch fasziniert sein von diesen Werken? Das ist doch nicht nachvollziehbar! Und ich ahnte, was für ein Menschentypus Putin sein könnte.

Wie würden Sie unabhängig von Putin das ukrainisch-russische Verhältnis generell charakterisieren?

Im und nach dem Zweiten Weltkrieg haben wir zusammengehalten, es gab auch so etwas wie eine Freundschaft zwischen den Völkern. Aber eine solche aufrichtige Freundschaft wird es nicht mehr geben, denn die Vernichtung von Städten wie Butscha, Irpin, Borodjanka und Mariupol ist unverzeihlich. Und wie kann man überhaupt die vielen getöteten ukrainischen Zivilisten verzeihen? Es wird nie mehr, wie es war.

Welche Perspektive haben Sie gegenwärtig auf das Verhältnis von Ukrainern und Russen, insbesondere mit Blick auf denjenigen Teil der russischen Bevölkerung, der nicht ‚aktiv‘ am Krieg beteiligt ist?

Es fällt mir nicht leicht, eine eindeutige Antwort auf diese Frage zu geben, auch deshalb, weil ich sehr viele Verwandte in Russland habe – mein älterer Bruder etwa hat eine Frau aus Sibirien geheiratet. Und viele weitere Verwandte leben in Russland. Auch viele meiner Freunde im KZ Bergen-Belsen waren Russen und nicht zuletzt haben mir meine Freundinnen aus Belgorod im Konzentrationslager das Leben gerettet. Ich lag schon auf dem Leichenhaufen und sie haben mich gewissermaßen ‚aus dem Jenseits zurückgeholt‘. Wie sollte ich diese Menschen hassen können? Ich schere nicht jeden Russen über einen Kamm und erkläre ihn zum Feind. Nur Putin kann uns Ukrainer in eine Schublade stecken und sagen: Die Ukrainer sind kein Volk. Nur Putin kann das machen, ich nicht.

Trotz der verwandtschaftlichen Bindungen und des von Ihnen skizzierten einstmals engen ukrainisch-russischen Verhältnisses hat sich die Ukraine 1991 unabhängig erklärt und ist seitdem ein eigenständiger Staat. Welche Empfindungen hatten Sie damals?

Ja, das ist eine sehr interessante Frage. Ich möchte diese gern mit einer Erinnerung beantworten: 1994 waren wir zum ersten Mal zusammen mit einer ukrainischen Delegation von ehemaligen Kriegshäftlingen in Hannover. Als wir auf dem Rathaus der Stadt sowohl die deutsche als auch die ukrainische Flagge wehen sahen, hat mich dieser Anblick und Moment gepackt. Meine ukrainische, die gelb-blaue Flagge! Früher noch waren wir Häftlinge, nun sehen wir unsere eigene Flagge. Wenn ich zurückdenke, dann habe ich immer Tränen in den Augen (weint). Dieser Stolz, eine freie ukrainische Bürgerin zu sein, war so ergreifend.

Dieses Nationalgefühl kam ja 2004, ganz besonders aber 2014 in der Ukraine zum Ausdruck. 2014 gingen sehr viele ukrainische Bürger auf die Straße, um gegen den Willen des damaligen ukrainischen Präsidenten für einen EU-Kurs zu protestieren, ja buchstäblich zu kämpfen. Hat 2014 das Selbstverständnis der Ukrainer verändert?

Das kann ich nur bestätigen. 2004 und 2014 haben sich die Ukrainer klar orientiert – sie wollten in Richtung EU. Deswegen waren die Menschen auch so empört darüber, dass unser ehemaliger Präsident Janukowytsch diesen Vertrag [gemeint ist das Assoziierungsabkommen mit der EU, d.R.] nicht unterschrieb. Damit kamen die Maidan-Proteste ins Rollen, weil die Leute ihre Wut kundtun wollten. Aber eigentlich war das Vorhaben der ukrainischen Nation schon immer: weg von Russland, hin zu Europa.

Ist das ein möglicher Grund für Putins Krieg? Hat er Angst vor diesem proeuropäischen Kurs und möchte ihn daher mit aller Gewalt verhindern?

Auf jeden Fall hat Putin Angst davor, dass sich die Ukraine nach Europa orientiert. Das zeigt auch, dass er eigentlich gar keine Ahnung von den Ukrainern hat, die sich ja schon immer als Europäer betrachtet haben. Wir müssen uns eigentlich nicht nach Europa hinbewegen, wir waren vielmehr schon immer im Herzen Europas. Bereits die Tochter von unserem Großfürsten Jaroslaw dem Weisen [gemeint ist hier Anna von Kyjiw, sie lebte im 11. Jh., d.R.] hat nach Frankreich geheiratet und wurde so zur französischen Königin. Und auch die andere Tochter Elisabeth [gemeint ist Elisabeth von Kyjiw, d.R.] hat nach Norwegen geheiratet. Wir waren also sehr früh im Zentrum von Europa.

Wie präsent ist diese Geschichte in der Ukraine, insbesondere vor dem Hintergrund, dass die ukrainische Geschichte, Kultur und Sprache nicht nur im Zarenreich, sondern noch in der Sowjetunion unterdrückt wurde?

Die ukrainische Geschichte und auch die ukrainische Sprache wurden schon immer unterdrückt. Das gilt von Anfang an, seit Peter dem Großen. Und auch die Kommunisten haben das dann im 20. Jahrhundert wieder gemacht und z. B. die ukrainische Sprache aus der Schule verbannt. Man durfte Ukrainisch nicht sprechen bzw. lesen, die Literatur wurde zensiert. Irgendwie war das Ukrainische schon immer vom Versuch der Auslöschung umgeben. Gerade deshalb ist die Erinnerung an unsere Geschichte so wichtig und muss wachgehalten werden.

Zu dieser Geschichte gehört nicht nur der Einfall von Hitlers Armeen, sondern auch die große Hungersnot in den 1930er Jahren, der sogenannte ‚Holodomor‘. Die Ukrainer selbst bewerten diesen als Völkermord. Welche Erinnerungen haben Sie an diese Zeit?

Die Erinnerungen an den Holodomor und an die Zeit der Repressalien sind natürlich die schlimmsten für mich. Ich werde immer sehr traurig, wenn ich darüber spreche. Ich war damals ein kleines Kind von etwa 7 Jahren; wir wohnten in einem Schulgebäude, das aufgeteilt war: ein Teil diente dem Schulunterricht, der andere als Unterkunft. Mein Vater war Lehrer und hinter dem Schulgebäude befand sich ein Friedhof, der durch eine tiefe Grube vom Schulgelände abgegrenzt wurde. Ich konnte mit Beginn des Hungerns sehen, wie die Toten auf der ebenfalls direkt hinter der Schule verlaufenden Straße mit Pferdefuhrwerken zum Friedhof gebracht wurden. Schlimmer war es dann aber für mich und meine Mitschüler, als die in Leinentücher gewickelten Toten über unseren Schulhof zu einem großen Massengrab gebracht wurden. Das war gleichsam meine erste direkte Begegnung mit dem Tod – es war ein grausiger Anblick. Was konnten wir tun? Wir haben Gras gegessen und nach verfaulten Kartoffeln in den Gemüsegärten gesucht. Allerdings ist das Gras nicht so schnell nachgewachsen, wie es von den anderen Menschen ‚abgegrast‘ wurde. Mein Leben verdanke ich jedenfalls einem unscheinbaren Kraut wie dem Knöterich. Dieses haben wir gesammelt, getrocknet, gemahlen – aus dem Mehl hat meine Mutter damals eine Art Fladenbrot gemacht. Überall, wo ich heute dieses Kraut sehe, denke ich daran.

Sie haben folglich sehr viel Grausames im Leben erlebt, nicht zuletzt den aktuellen Krieg. Blicken Sie dennoch auch mit positiven Erwartungen auf die Zukunft?

Ja, ich würde zwei positive Dinge nennen wollen. Zunächst: Unsere ukrainische Gesellschaft war sich nicht immer einig. Es gab sehr viele Streitthemen und Streitigkeiten. Aber nun, und das macht mich unglaublich glücklich, halten wir im Angesicht des Krieges unglaublich zusammen. Die Leute melden sich freiwillig zum Dienst, helfen, spenden – ich wünsche mir, dass das weiterbesteht. Und der zweite positive Aspekt besteht in der finanziellen und humanitären Hilfe durch Europa. Dass Europa uns unterstützt und dass wir uns diesem zugehörig fühlen dürfen, dafür bin ich sehr dankbar. Ruhm der Ukraine!

Eine persönliche Frage zum Abschluss: Wann hoffen Sie, nach Kyjiw zurückkehren zu können?

Am liebsten würde ich sofort nach Hause aufbrechen wollen. Meine Seele will nach Hause, aber mein Verstand rät zum Abwarten. Kyjiw wurde zwar verteidigt, aber angesichts der neuerlichen Aufrüstung durch Putin kann ich noch nicht nach Hause. Dennoch: In jeder Sekunde möchte ich nach Hause.

Das Gespräch führten Christian Kuhlmann und John Palatini, Übersetzung Lina Navrotska. Wir danken Maik Reichel für die freundliche Vermittlung.


Anastasia Gulej, geboren 1925 in der Ukraine, erlebte als Kind die Schrecknisse der großen Hungersnot. 1943 wurde sie nach Deutschland zur Zwangsarbeit verschleppt und überlebte nur knapp die Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und Bergen-Belsen. Sie ist seit vielen Jahren als aktive Zeitzeugin unterwegs, unter anderem auch in Sachsen-Anhalt. Sie lebt in Kyjiw.

Zum Buch

Maik Reichel: Poltawa, Auschwitz, Bergen-Belsen, Kyjiw – Die Lebensgeschichte der Anastasia Gulej. Verlag Janos Stekovics, 2022

In diesem Buch berichtet die nunmehr 96-jährige Anastasia Gulej über ihr langes Leben. In zahlreichen Interviews und selbst verfassten Texten erzählt sie von ihrer Kindheit, den Schrecknissen einer großen Hungersnot, als sie als Siebenjährige ausgemergelte Menschen in einem Massengrab sieht. Wenige Jahre später bangt sie zusammen mit ihrer Familie, dass der „Schwarze Rabe“, ein Fahrzeug des sowjetischen Innenministeriums, nicht vor dem eigenen Haus hält und den Vater für immer abholt. Sie erlebte den Einfall der deutschen Truppen in die Sowjetunion, wurde 1943 zur Zwangsarbeit verschleppt, flieht von dort und landet schließlich im berüchtigten Auschwitz-Birkenau, wo sie nahe der Krematorien haust und schon bald erfährt, was dort Grausames vor sich geht. Die letzte Station ihres Leidens ist das völlig überfüllte Lager Bergen-Belsen, in dem sie fast stirbt, wenn die britischen Befreier nicht gekommen wären. 2022 tritt wieder Krieg in ihr Leben.