Einer mitteldeutschen Waldlegende auf der Spur: Wurde die Nachhaltigkeit im Harz erfunden?

Allgemein wird der Sachse Carl von Carlowitz als Schöpfer des Nachhaltigkeitsgedanken angesehen, der dem modernen Umgang mit der Natur zugrunde liegt. Doch eine ältere Quelle aus dem Harz widerlegt das.

Karl-Friedrich Weber und Friedhart Knolle | Ausgabe 1-2023 | Kulturlandschaft | Natur und Umwelt

Verschiedene Titel zum Thema „Carlowitz und die Nachhaltigkeit im Wald“. Foto: Friedhart Knolle.
Carlowitz-Biographie der Sächsischen Carlowitz-Gesellschaft. Foto: Friedhart Knolle.

Forstgeschichte kann wesentlich zur Identität des Forstwesens beitragen. Geschichtsklitterei ist demgegenüber die bewusste Verfälschung geschichtlicher Ereignisse. Sie kann die Glaubwürdigkeit in die positive Identität des Forstwesens nachhaltig erschüttern, wenn daraus Mythen konstruiert werden, die dazu bestimmt sind, vorwiegend der Selbstdarstellung zu dienen und durch häufige Wiederholung zu einer „Wahrheit“ zu werden, die nicht mehr hinterfragt wird.

Dass die Nachhaltigkeit vor über 300 Jahren erstmalig durch die mitteldeutsche Forstwirtschaft eingeführt wurde, ist so ein Mythos, der in kaum einer Selbstdarstellung der Forstwirtschaft Deutschlands fehlt. Leider ist diese Legende tief in der Literatur verankert. Damit sind wir bei der Frage: Standen Förster und ihre Forstwirtschaft am Beginn des Nachhaltigkeitsgedankens?

Als der sächsische Oberberghauptmann Hans Carl von Carlowitz 1713 mit der Sylvicultura oeconomica das erste geschlossene Werk über Forstwirtschaft vorlegte, schuf er auch ein politisches Buch, das sich für Generationengerechtigkeit einsetzt. Förster standen zu seiner Zeit noch in eher zweifelhaftem Ruf als Vollzieher des Willens ihrer Herrschaft, bei der sie in Lohn und Brot standen.

Carl von Carlowitz und spätere Forsthistoriker

Von Carlowitz schrieb 1713: „Wird derhalben die größte Kunst / Wissenschafft / Fleiß / und Einrichtung hiesiger Lande darinnen beruhen/wie eine sothane Conservation und Anbau des Holtzes anzustellen/daß es eine continuirliche beständige und nachhaltende Nutzung gebe / weiln es eine unentberliche Sache ist […].“

Carlowitz popularisierte den Begriff der Nachhaltigkeit, war aber nicht dessen Erfinder. Im Harz wurde bereits um 1650/75 der Begriff „nachhalten“ bei der Holzversorgung benutzt. Näheres dazu findet man bei Bei der Wieden:

„Im Hinblick auf die Begriffsgeschichte ist immerhin zu konstatieren, dass das Wort ‚nachhalten‘ im forstlichen Sinne zuerst im Entwurf einer Forstordnung für den Kommunionharz – 1650 / 75 – erscheint. Bei der Anlage von Sägemühlen, heißt es da, sei wohl zu überlegen, ‚wie lange die Holtzung / so auf solchen Segemühlen zu verschneiden / vorhanden / nachhalten könne.‘ Schon anlässlich der Forstbereitung der ‚ober- undt unterharzischen berge und wälder‘ 1583 wurden Überlegungen angeregt, wie lange das Holz, das in einem Zeitraum von dreißig Jahren aufwachse, „das berg- undt hüttenwerck halten könne.“

Der ständig zunehmende Holzhunger der Gruben und Hütten führte auch im Harz zur Übernutzung der Wälder und etwa ab 1700 zur regelrechten Waldzerstörung. Allein etwa 30.000 Meilerplätze soll es im Harz gegeben haben. Infolgedessen herrschte Holznot im Waldgebirge Harz. Um den Bergbau aufrechterhalten zu können, wurde zeitweise Holzkohle aus dem Harzvorland und dem benachbarten Weserbergland, vor allem aus dem Solling, in den Harz geschafft. Die immer länger werdenden „Kohlenstraßen“, auf denen Holzkohle zu den Hüttenwerken transportiert wurde, sind ein Zeugnis für diese Verknappung. Raubbau, wohin das Auge schaute – so präsentierten sich die Wälder im Harz im Umfeld der Bergwerke und Hütten seinerzeit. Ganz entwaldet bzw. kahl war der Harz jedoch nie – das wird zwar gern plakativ behauptet, selbst von Fachleuten, ist jedoch historisch nicht nachweisbar.

Gut 50 Jahre vor Hans Carl von Carlowitz wurde der Begriff „Nachhalten“ bereits im Harz erwähnt

Sehr früh machten sich daher auch im Harz Forstleute Gedanken, wie dieser Holznot abzuhelfen sei. Daher sind hier mehr oder weniger stringente einschlägige Forstordnungen bereits zu Mitte des 16. Jahrhunderts in Kraft. Carlowitz ist sich der historischen Vorgeschichte, dass „Nachhalten“ im Harz bereits seit gut 50 Jahren ein Begriff ist, bewusst und schreibt daher 1713 in kluger Selbstbescheidenheit: „Es ist so wohl das Säen der wilden Bäume / als auch die Xylotrophia oder das Pflantzen / Versetzen / Ausschneideln / Ausputzen nebst anderer Wart- und Pflegung derselbē nicht bey unserm Gedencken entstanden / sondern ohne Zweifel viel Secula her und bey derer Alten und unserer Vorfahren Zeiten, wie aus ihren Schrifften zu colligiren, ja von Anfang der Welt her bekant und im Brauch gewesen […]“.

Von dieser Selbstbescheidenheit des Hans Carl von Carlowitz sind diejenigen nicht, die sich heute die „Erfindung der Nachhaltigkeit“ auf die Brust schreiben und noch zu einer „Erfindung“ der Forstwissenschaft steigern. Den Beginn der forstlichen Nachhaltigkeit nahm selbst Hans Carl von Carlowitz nicht für sich in Anspruch. Er bezog sie ohnehin wesentlich auf die Holznachhaltigkeit am Beginn des aufblühenden Merkantilismus für eine gesicherte Industrieversorgung mit Grubenholz und Energie zur Erzverhüttung, Glasschmelze oder Salzsiederei. Diese Sachlage war Forsthistorikern bereits klar, bevor der Begriff der Nachhaltigkeit Anfang der 1990er Jahre seine heute allgemein gebräuchliche und teilweise missbräuchliche Entwicklung nahm.

Soweit Laubwald erhalten geblieben ist, wird er immer mehr zu einem nach Herkunft und Aufbau künstlich gestalteten und naturentfremdeten Wald.

So stellte der Harzer Forsthistoriker und Forstmann Winfrid Schubart hierzu fest: „Nur unter Berücksichtigung einer solchen vielseitigen Beanspruchung kann Wald- und Forstwirtschaft früherer Zeiten richtig verstanden und beurteilt werden. Das sei hier betont zum Ausdruck gebracht gegenüber einer häufigen, allzu schnell und allzu leicht selbst in Fachkreisen geübten Kritik an früherer Waldwirtschaft, oft in einer Härte, als sei von unseren Vorfahren nur Raubbau am Wald betrieben worden, meist in Unkenntnis der Dinge. Verantwortung, Ordnung, Recht und Nachhaltigkeit in Angelegenheiten des Waldes als Regel, Raubbau und meist sehr kurzfristige Verwüstungen, wenn kriegerische Ereignisse, Rechts- oder Besitzstreitigkeiten oder Naturextreme eingriffen. […] Wie weit der Mensch auch Einfluss auf die Gestaltung und Entwicklung des Laubwaldes nahm, eine Grenze wurde durch alle Jahrhunderte niemals überschritten. Man blieb bei einem natürlichen oder naturnahen standortgebundenen Wald, in dem man zwar die Natur der Wirtschaft dienstbar machte, sie aber im Grundsätzlichen nicht störte oder verließ. Nun, mit der Einführung des reinen, gleichaltrigen Hochwaldes geschah etwas Neues, bisher nicht Dagewesenes. Man veränderte die natürliche Verteilung von Laub- und Nadelholz und regelte sie künstlich im Rahmen der wirtschaftlichen Planung. Dabei verlor der Laubwald seine bisherige, bei weitem vorherrschende Verbreitung. Er wurde überall zurückgedrängt oder ganz verdrängt und ist heute auf dem Wege, als reiner Laubwald nur noch eine untergeordnete Rolle in der Wirtschaft zu spielen. Soweit Laubwald erhalten geblieben ist, wird er immer mehr zu einem nach Herkunft und Aufbau künstlich gestalteten und naturentfremdeten Wald.“

Ist also mit dem Beginn der behaupteten Holznachhaltigkeit nicht vielmehr die Chance einer Ressourcennachhaltigkeit standortheimischer Laubwälder selbst nach Übernutzungsphasen verringert worden oder ganz verloren gegangen? Oder zeigt sie sich heute im Zeichen zusammenbrechender Nadelmonokulturen und naturferner Altersklassenwälder sowie Bodenzerstörungen durch den Einsatz der Großmaschinentechnik in ihrer Folge als ein jahrzehnte-, wenn nicht jahrhundertelanger forstwirtschaftlicher Irrweg? Diese Frage muss offen bleiben.

Auch der Forstgeschichtler, Fachbuchautor und langjährige Forstamtsleiter Joachim Hamberger widerspricht dem heutigen Standard-Mythos eines Beginns der Nachhaltigkeit durch Forstleute vor über dreihundert Jahren: „Der Wald, der heute multifunktional ist, hatte im Bewusstsein der damaligen Menschen eine reine Wirtschaftsfunktion“. Der Begriff der Nachhaltigkeit sei in der Zeit der Aufklärung verwendet worden, was nur für das Wort an sich gelte. Nachhaltiges Handeln und das Bewusstsein um das Prinzip der Nachhaltigkeit seien jedoch schon viel älter. Bereits in der Bibel seien solche Prinzipien genannt.

Die Idee, so Hamberger, habe vorindustrielle Wurzeln. Von Förstern in heutigem Sinne war da noch weit und breit nichts zu sehen. Der Nürnberger Patrizier Peter Stromer „erfand“ zum Beispiel die Nadelholzsaat. Die zündende Idee hatte er 1368 – erstmals säte ein Mensch auf unbestockten Kahlflächen bewusst Kiefernsamen aus, um Holz nachzuziehen. Die Saat von Nadelholz wurde zu einem florierenden Wirtschaftszweig der alten Reichsstadt Nürnberg, der nicht nur die eigenen Wälder wiederbestockte, sondern auch zum Exportschlager wurde und in ganz Europa Bestätigung fand. Hamberger fasst zusammen: „Der Begriff Nachhaltigkeit wurde im 18. Jahrhundert in der Fortwirtschaft eingeführt. Das Grundprinzip wurde bereits in der Markgenossenschaft entwickelt und im mittelalterlichen Nieder- und Mittelwald praktiziert. … Das Prinzip der forstlichen Nachhaltigkeit stammt damit zum einen aus der bäuerlichen Allmende, zum anderen aus der mittelalterlichen, städtischen Frühindustrie.“

Lesen Sie hier: Geschichte des Waldes im Harz – Produktionsfläche oder Lebensraum?

Ein weiterer Aspekt ist zu ergänzen. Mit unserem auf Europa fixierten Denken übersehen wir oft, dass z.B. die japanische Forstwirtschaft viel älter ist als die europäische. Dort wurden bereits um 1640 Forstregister angelegt und systematische Pflanzungen vorgenommen. Erste Forstlehrbücher sind in Japan um 1668 belegbar – viel früher als in Europa. Eine gute Übersicht dazu gibt Totman. Insofern ist es wahrscheinlich, dass der Begriff „Nachhaltigkeit“ in anderer Sprache dort entwickelt wurde, vielleicht auch in Ländern wie China bzw. Indien, die ebenfalls eine sehr lange Forstwirtschaftsgeschichte haben.