Geschichte des Waldes im Harz – Produktionsfläche oder Lebensraum?
Im Laufe der Zeit hat sich der Baumbestand im Harz stetig verändert. Wo einst Urwald wuchs, stehen nun Monokulturen. Um die heutigen ökologischen Probleme des Harzwaldes zu verstehen, muss man die Anfänge der Forstwirtschaft betrachten.
Karl-Friedrich Weber | Ausgabe 1-2023 | Kulturlandschaft | Natur und Umwelt
Am Ende der letzten Kaltzeit vor ca. 11.500 Jahren kehrten die Wälder zurück und eroberten fast die gesamte Landfläche Mitteleuropas. Lediglich Wasserflächen, Moore und die Brockenkuppe waren in unserer Region eisfrei. Von diesem Waldreichtum ist nicht all zu viel geblieben. Erst vor 6.000 Jahren wanderte die Fichte in unser Gebiet ein, vor 5.000 Jahren folgte die Buche.
Als der Wald wiederkam
Als die ersten kleinen Menschengruppen vor vielleicht 40.000 Jahren nach Mitteleuropa und Asien einwanderten, brachten sie die Bilder ihres angestammten Lebensraums mit. Das war die Savanne. Es gibt einen weltweiten Grundkonsens vieler Kulturen. Vertraut wirkt eine unspektakuläre, nicht ängstigende wasserreiche Parklandschaft mit Anhöhen und Fernsicht, Baumgruppen und Gebüschen, in der die Übersicht gewahrt bleibt. Englische Gärten sind deshalb so beliebt.
In der Jungsteinzeit musste der Wald entgegen seiner natürlichen Dynamik nach den Bedürfnissen der Menschen geformt oder gerodet werden. Die heutige Offenlandschaft entstand. Entgegen ihrer ursprünglichen Ausdehnung bilden Laubwälder heute nur noch intensiv genutzte Waldinseln auf den Hügeln des Harzvorlands.
Vom Harz und seiner Waldgeschichte
Der Harz hat eine andere Waldgeschichte als das Harzvorland. Im Harz beherrschte vor 2.000 Jahren die Buche das Bild – nur in den höchsten Lagen ab 800 m dominierte die Fichte. 780 erklärte Karl der Große den Harz zum Reichsbannwald. Nur gekrönte Häupter durften hier jagen. Die kaiserlichen und königlichen Forstbeamten, die „forestarii“, waren Richter (judices) über die Dinge und Geschehnisse im Wald.
Noch im frühen Mittelalter lagen die Siedlungen der Menschen inmitten großer Wälder. Es waren jedoch keine Urwälder mehr. Neben der Nutzung von Holz, Weide und Mast lieferte der Wald Laubheu, Bodenstreu, Kräuter, Honig, Wildfleisch, Nüsse, Eicheln, Bucheckern, Beeren, Wildobst und vieles mehr. Die schattenertragende dominante Buche wurde dabei zurückgedrängt, weil der lichte Eichenwald mit Vogelbeere, Wildkirsche, -birne, -apfel, Elsbeere und Linde eine bessere Lebensgrundlage bot. Die Eiche wurde seit Urzeiten begünstigt. Sie diente nicht nur als Bau- und Brennholz, sondern vor allem als Nahrungsbaum für Schweine wegen ihrer Früchte, den Eicheln.
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Bergbau, Hüttenindustrie, Wasserwirtschaft, zunehmende Besiedlung, Rodungen, Vieheintrieb, Landwirtschaft und später Fremdenverkehr leiteten eine langanhaltende negative Waldentwicklung im Harz ein. Weite Buchenwaldgebiete fielen dem Bergbau zum Opfer – insbesondere die Köhlerei verbrauchte große Mengen Holz. Aber auch Bauholz wurde übertage und in den Gruben benötigt. Ab Beginn der Neuzeit führte die Übernutzung zur Waldzerstörung.
Der Forstmann Johann Georg von Langen (1699 – 1776) begründete die geregelte Forstwirtschaft im Harz. Die nun beginnende Fichtenwirtschaft konnte zwar die Bedürfnisse des Bergbaus befriedigen, legte aber mit ihren Monokulturen und nicht standortgerechtem Fichtensaatgut die Grundlage für die heutigen ökologischen Probleme der Harzer Wälder. Sein Schüler Hans Dietrich von Zanthier setzte sein Werk fort.
Der Wald heute – Volkswirtschaft oder Betriebswirtschaft?
Heute ist ein alter Streit wieder aufgebrochen. Es ist die fundamentale Frage nach dem, was Wälder als die flächengrößten Ökosysteme auf den Landmassen der Erde bewirken und was sie für eine wachsende Menschheit heute und in Zukunft existenziell bedeuten. Es ist der Streit zwischen notwendigem Maß des Schutzes dieser Wälder – auch im Hinblick auf seine dauerhafte Nutzbarkeit – und dem Bestreben, möglichst hohen Bodenreinertrag unter Bedingungen der Zinseszinsrechnung zu erwirtschaften. Es ist der Gegensatz zwischen volkswirtschaftlichen und betriebswirtschaftlichen Zielen.
Oberlandforstmeister von Hagen schrieb 1867: „Die preußische Staatsforstverwaltung bekennt sich nicht zu dem Grundsatz des nachhaltig höchsten Bodenreinertrags unter Anlehnung an eine Zinseszinsrechnung, sondern sie glaubt, im Gegensatz zur Privatwirtschaft, sich der Verpflichtung nicht entheben zu dürfen, bei der Bewirtschaftung der Staatsforsten das Gesamtwohl der Einwohner des Staates im Auge zu haben. … Sie hält sich nicht befugt, eine einseitige Finanzwirtschaft, am wenigsten eine auf Kapital und Zinsertrag berechnete reine Geldwirtschaft mit den Forsten zu treiben, sondern für verpflichtet, die Staatsforste als ein der Gesamtheit der Nation gehörendes Fideikommiss so zu behandeln, dass der Gegenwert ein möglichst hoher Fruchtgenuss zur Befriedigung ihres Bedürfnisses an Waldproduktion und an Schutz durch den Wald zugute kommt, der Zukunft aber ein mindestens gleich hoher Fruchtgenuss von gleicher Art gesichert ist.“
Die Entwicklung der Landesforsten zu Wirtschaftsbetrieben führt heute zu einem Widerspruch, den diese nicht auflösen können. Sie sollen den Spagat zwischen Rentabilität und volkswirtschaftlicher Produktivität schaffen, was nicht möglich ist.
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Die Folge dieses Widerspruchs ist zum Beispiel der Einsatz von Techniken, die die Rentabilität erhöhen sollen. Das Harvester-Forwarder-Bringungssystem, das heute überall zur Holzernte verwendet wird, erfordert einen Gassenabstand von 20 Metern, was zum Befahren und dauerhafter Zerstörung der Böden als unserem wichtigsten Schutzgut auf 20 – 30 % der Waldbodenfläche und zum Befahren der Feinwurzeln aller Bäume an den Gassenrändern führt. Böden entstehen in Jahrtausenden unter Klimabedingungen, die heute nicht mehr bestehen. Böden sind deshalb nicht erneuerbar. Sie werden verdichtet, erodieren, verlieren ihre Speicherfunktion und werden zur Quelle von Treibhausgasen. Kahlschläge gehören inzwischen wieder zum gewohnten Bild. Sie werden maschinengerecht ausgeformt. Begründet wird das mit wirtschaftlichen Erfordernissen, oft auch mit der Zweckbegründung unvorhersehbarer oder unbeeinflussbarer Naturkatastrophen oder mit Schadereignissen, die von außen in die Wälder hineinwirken.
Die Vollbaumnutzung, bei der auch die Baumkronen dem Bestand entnommen und als Energieholz vermarktet wird, entzieht den Böden Nährstoffe weit über das Maß hinaus, als durch geologische Prozesse aus dem Untergrund nachgeschaffen werden kann. In den Feinästen und Knospen der Bäume konzentrieren sich Nährstoffe. Indem dieses Reisig durch den Harvester auf die Rückegassen verbracht wird, reichern sich dessen Nährstoffe dort an, wo sie für die Wurzeln nicht mehr erreichbar sind.
Eine positive Entwicklung ist der Umbau von Nadelholzreinbeständen, die heute noch den überwiegenden Anteil der Wälder ausmachen, zu Laubmischwäldern. Insbesondere im Harz entstehen neue Buchenwälder. Ihre volle ökologische Leistungsfähigkeit werden sie aber erst in Jahrhunderten erbringen können, wenn man sie denn alt werden lässt. Gleichzeitig werden die verschwindend kleinen Reste alter Eichen- und Buchenwälder im Hügelland eingeschlagen und geerntet – es muss um jeden Hektar nutzungsfreien alten Waldes in einem mühsamen politischen Prozess gerungen werden.
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Das Ziel der langfristigen ökologischen Waldentwicklung kommt nur schleppend voran. Die als normal bezeichneten Holzvorräte in den Wirtschaftswäldern liegen weit unter denen eines Naturwalds oder eines naturnah bewirtschafteten ungleichaltrigen und reich strukturierten Laubmischwalds. Wenn zwei Kubikmeter Holz pro Hektar weniger genutzt werden als zuwachsen, dauert es etwa einhundert Jahre, bis das Niveau der Vorräte von naturnahen Wirtschaftswäldern erreicht ist. In unberührten Naturwäldern liegen die Vorräte in der Regel wesentlich höher.
Es geht im Kern der Auseinandersetzung also nicht um den vermeintlichen Widerspruch zwischen Schutz und Nutzung, sondern zwischen kurzzeitiger Geldwirtschaft und langzeitlich handelnder Ökonomie, die in keinem unauflösbaren Widerspruch zum Naturschutz steht. Eine Forstwirtschaft, die den naturgesetzlichen Rahmen nicht einhält und sich den vermeintlichen Zwängen der Geldwirtschaft nicht entzieht, greift zu Mitteln, die von ihren Zielen wegführt. Sie begrenzt sich damit langfristig selbst.
Deshalb ist Naturschutz nicht einer von vielen Nutzungsansprüchen der Gesellschaft an den Wald, sondern die Voraussetzung für eine ethisch begründete Ökonomie und somit alternativlos.
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Seelenbalsam und Lebensglück
Wir wissen sehr wenig über unsere Wälder als Ökosysteme – ob Förster, Biologen, Ökologen, Ökonomen oder ehrenamtliche Naturschützer. Wenn wir jedoch über die Wälder sprechen, meinen wir stets Wälder für kommende Jahrhunderte. Wälder können ohne unsere steuernde Hand leben. Sie brauchen uns nicht. Wir brauchen sie. Es ist unsere Entscheidung, wie viel Maß an Ungeduld wir verantworten wollen, wenn wir die Naturprozesse beschleunigen möchten. Wir wissen deshalb trotzdem nicht, was sich wie entwickeln wird.
Nachdem der Fichtenborkenkäfer durch die Monokulturen des Harzes gezogen ist und wir lange mit gemischten Gefühlen leben mussten, erkennen wir heute mit zunehmender Erleichterung, wie schnell die Komplexität natürlicher Systeme einen anderen Wald entstehen lässt. Was sind schon zwei Jahrzehnte oder auch hundert Jahre im historischen Zusammenhang? Wir können daraus lernen und zu neuen Einsichten kommen. Und wir können unsere Wälder vor allem als einen großartigen Schatz verstehen – als Balsam für unsere Seele und als Lebensglück.